Zur Hadschzeit ging es in Mekka besonders bunt und turbulent zu. Von nah und fern kamen Leute in die Stadt. Es wurde gekauft und verkauft, die Händler machten gute Geschäfte, Versammlungen fanden statt, Liederabende und Dichterwettbewerbe, Reden und Vorträge wurden gehalten, ganz abgesehen vom Besuch der Kaaba, der allen ein selbstverständliches Anliegen war.
Nun gab es in Mekka Regelungen, die von allen zu respektieren waren, ebenso wie in der Steppe die verschiedenen Stammessitten und Bräuche herrschten, die unbedingt eingehalten werden mussten. Während der Hadsch-Tage waren zum Beispiel Krieg und Kampf verboten und keiner durfte in dieser Zeit eine Fehde mit anderen austragen. Das war allgemein bekannt. Dennoch war es nicht so einfach, für Sicherheit und Ruhe in der Stadt zu sorgen. Wie an jenem Tag…
Morgens war noch alles friedlich, Abdul Mutalib und die anderen waren im Rafadah Verein mit ihren Arbeiten beschäftigt. Mit einem Male drang von irgendwo vom Marktplatz her Gelärme zu ihnen herüber. Ein Mann rief mit lauter Stimme nach Abdul Mutalib und beschwerte sich über etwas. Einige, die nichts Wichtigeres zu tun hatten, drängten sich um ihn. Man führte ihn zu den Rafadah- Leuten. Er ging kurzerhand nach vorn, vor Abdul Mutalib saß und sagte: „Guten Tag! Guten Tag, ihr Männer von Mekka. Mir wurde gesagt, dass ihr zu den Großen der Stadt gehört. Aber, aber…. Was geht hier bei euch vor?! Was? Ich soll mich nicht so aufregen? Wie kann ich das, frage ich euch! Wie kann ich schweigen und meine Ruhe bewahren?! Ich bin aus der Steppe und weit von meinem Stamm und meiner Familie entfernt! Niemand ist hier, der mir bestünde! Abdul Mutalib rief ihn freundlich zu sich heran und sprach: „Es kommt alles in Ordnung! Mach dir keine Sorgen! Nur, sag mir jetzt, worum es geht, damit ich dir helfen kann!“
Der Mann entgegnete aufgebracht: „Worum es geht? Was geschehen ist? Was soll schon geschehen sein! Diebe in eurer Stadt haben mich bestohlen und mir mein gesamtes Hab geraubt. Nun sitzen sie da in ihrem Versteck und lachen sich ins Fäustchen! Jawohl, meinen Geldbeutel haben sie entrissen, und nun stehe ich völlig mittellos da! Ich wollte ein paar Geschenke für meine Kinder kaufen, doch nun habe ich nichts mehr, nicht mal mehr soviel, dass ich meinen Hunger hier in der Fremde stillen kann! Oh, ich armer Schlucker! Ich weiß nicht, Mekka muss voller Diebe sein! Wir beschützen draußen in der Steppe eure Karawanen, ihr aber lasst uns in euer Stadt das Hemd vom Leibe fortstehlen!“
Abdul Mutalib entgegnete ruhig, aber energisch: „Erstens bist du in unserer Stadt unser Gast, und wir kommen für dich auf solange du hier bei uns bleibst. Zweitens: Unsere Stadt ist nicht voller Diebe! Rede nicht so dreist daher! Es ist nicht notwendig, dass du schlecht über uns redest. Es ist dir Geld gestohlen worden. Nun gut, doch du weißt selbst, dass wir nicht für jeden Geldbeutel einen Wächter abstellen können. Soviel Leute stehen uns gar nicht zur Verfügung! Ein jeder muss selbst auf seine Sachen aufpassen. Allerdings…, wir bemühen uns, die Diebe zu finden und zu bestrafen. Ein Dieb ist gewöhnlich jemand, den die Leute als solchen nicht kennen und der normalerweise nicht ein Schild um den Hals hängen hat, auf dem steht: Leute! Aufgepasst! Ich bin ein Dieb! Es ist also nicht unsere Schuld, dass dir was gestohlen wurde. Dennoch, wenn dein Geld nicht gefunden wird, werden wird dir den Verlust ersetzen…. Selbstverständlich wollen wir keinen Diebstahl in unserer Stadt, doch was können wir machen?! In jeder Stadt gibt es Diebe. Ich weiß nicht, welchem Stamm du angehörst, hier aber gehört alles allen! In diesen Hadschtagen sind alle – Freunde und Feinde – unsere Gäste. Doch nun sag, wie dein Geldbeutel aussieht? Woran ist er zu erkennen? Wie viel Geld war in ihm und welcher Art war es?“
Der Mann aus der Steppe antwortete: „Ich bin ganz ausgetrocknet! Gäbe es doch ein wenig Wasser hier!“
Die Männer lachten und sagten: „Trinkwasser möchtest du? Natürlich kannst du Wasser haben! Wir schlachten Hunderte von Kamele für die Leute und versorgen alle mit Brot und Fleisch, da wird ja wohl auch an Wasser für sie gedacht worden sein! Sei unbesorgt, wir werden dir sofort Wasser bringen!“
Muhammad war zu jener Zeit sieben Jahre alt. Er lief und holte schnell eine Schale mit Wasser herbei, die er dem Mann reichte. Diese trank und meinte: „Das hast du gut gemacht, Junge! Mögest du lange leben! Was aber mein Geld anbelangt, so wisset: Es befand sich in einem gewebten Säckchen aus gelber Wolle, das ich oben mit einem schwarzen Band verschlossen hatte. Siebzig Gold Dinar befanden sich in ihm, hundert Silber – Dirham und ein wenig Kleingeld. Gestern Abend hatte ich es noch. Der Geldbeutel steckte in der Tasche meines Gewandes, und geschlafen habe ich neben meinem Kamel. Ich weiß nicht, wer mich bestohlen hat, ich jedenfalls habe nichts von dem Diebstahl bemerkt!“
„Es kann durchaus sein, dass dein Geldbeutel nicht gestohlen wurde, sondern du ihn verloren hast“, entgegnete Abdul Mutalib. „Rede nicht dauernd von Diebstahl und Dieben, denke stattdessen genauer nach! Wir werden jedenfalls etwas unternehmen, sei unbesorgt! Geht nun dort ins Gasthaus, iss dich satt und ruhe dich aus. Morgen komm wieder her zu uns. Wir werden sehen, was wir inzwischen machen können. Auf jeden Fall lassen wir dich nicht mit leeren Händen heimreisen!“
Der Mann beruhigte sich. Der kleine Muhammad aber begann unruhig zu werden. Er meinte, den Geldbeutel irgendwo gesehen zu haben, konnte ich sich aber nicht daran erinnern, wo und an welcher Stelle. Am frühen Morgen, als er das Haus verlassen hatte und mit einigen Kindern zum Bazar gegangen war, hatte einer der Jungen etwas vom Boden aufgehoben und schnell in die Tasche seines Hemdes gesteckt. Es schien von gelber Farbe gewesen zu sein. Doch sicher war Muhammad sich nicht, dass es sich um den Geldbeutel dieses Mannes gehandelt hatte. Jedenfalls sah er sich nun verpflichtet, der Sache auf den Grund zu gehen. Von seinem Großvater Abdul Mutalib erhielt er die Erlaubnis dazu, und so machte er sich auf dem Weg zum Hause des besagten Jungen. Aus dem Haus drang der Lärm spielender Kinder zu ihm her. Muhammad rief den Jungen. Er hieß Maad. Als er kam, fragte er ihn ganz leise: „Maad, weißt du was? Ein Mann aus der Steppe hat seinen Geldbeutel verloren und diesen Verlust dem Rafadah Verein gemeldet. Maad, ich habe nichts gesagt, aber es ist möglich, dass das, was der Mann verloren hat, genau das ist, was du heute Morgen gefunden hast.“ Maad antwortete stotternd: „ Aber ich habe doch gar nichts gefunden! Überhaupt, ich bin den ganzen Tag noch nicht draußen gewesen! Was sagst du da eigentlich?“ Er machte eine kleine Pause, dann meinte er verlegen:
„Weißt du, Muhammad, das, was ich heute Morgen fand, war ein kleines Beutelchen mit Geld. Komm, du sollst auch etwas davon bekommen.“
„Nein“, erwiderte Muhammad, „Maad, wie kannst du nur solch einen Vorschlag machen! Das wäre sehr hässlich von uns, wenn wir das täten! Wir können doch nicht etwas für uns behalten, was uns gar nicht gehört! Wenn das Geld von jenem Mann ist, so müssen wir es ihm zurückgeben, und wenn es nicht von ihm ist, so heißt das, das wir den rechtmäßigen Besitzer finden müssen!“
Erregt und besorgt – man spürte ganz deutlich, dass er ein schlechtes Gewissen hatte -meinte Maad: „Ich bin bereit, die Hälfte des Geldes dir zu geben, allerdings nur unter der Bedingung, dass du niemanden davon erzählst!“
„Nein, das kann ich nicht“ rief Muhammad, „was anderen gehört, gehört nicht uns! Willst du, dass ich lüge und bei deinem Betrug mitmache? Das ist unmöglich! So etwas dürfen wir nicht tun! Ich werde alles, was ich weiß meinem Großvater sagen!“ Inzwischen waren die anderen Kinder ebenfalls hinzugekommen. Sie sagten: „Muhammad, was willst du von uns? Willst du Streit anfangen? Wer hat dich überhaupt gefragt, ob du etwas weißt oder nicht? Misch dich gefälligst nicht in Angelegenheiten an, die dich nichts angehen! Oder ist dir das Geldsäckchen anvertraut worden? Wenn du etwas haben willst von dem gefunden Geld…, die Hälfte oder auch alles, so sag es ruhig. Überhaupt, du kannst alles haben, wir werden es dir überlassen, und du kannst uns dann soviel abgeben, wie du möchtest! Alles andere ist deins! Mach nur kein Geschrei! Halte den Mund und erzähle bloß nichts weiter!“
Muhammad entgegnete: „Nein, ich bin nicht einverstanden. Wir müssen feststellen von wem der Geldbeutel ist! Wenn wir etwas finden, was uns nicht gehört, so haben wir es dem Eigentümer zurückzugeben!“ Da drohten die Jungen: „ Nun, wenn das so ist, so verlass dich darauf: Wir haben nichts gesehen und wissen von nichts! Mach, was du willst! Und überhaupt: Wenn du Streit mit uns haben möchtest, so stehen wir zur Verfügung. Glaub nicht, dass wir uns gegen dich nicht behaupten können! So lahm, wie du wohl glaubst, sind wir noch lange nicht! Wenn es dir Spaß macht, werden wir alle gegen dich aufhetzen!“
„Nein, es macht mir keinen Spaß“ , entgegnete Muhammad. „Überhaupt, ich will keinen Streit mit euch! Nur, richtig ist, dass wir alle uns gut verhalten! Lasst doch den Unsinn und gebt das, was ihr gefunden habt, seinem Eigentümer zurück!“ Nun war Maad richtig wütend geworden! Er schrie: „Ich habe nichts gesehen und nichts gefunden! Verschwinde jetzt! Wenn nicht, werde ich meinen großen Bruder rufen, der wird dir dann Beine machen!“
„Du kannst tun, was du willst“ meinte Muhammad, „aber ich bleibe hier, bis ihr mir das Geldbeutelchen gegeben habt, damit ich sehe, was in ihm ist. Wenn in ihm das steckt, was der Mann aus der Steppe gesagt hat, so bedeutet das, dass das Geldbeutelchen ihm gehört. Wenn sich etwas anderes in ihm befindet, als er sagte, so sieht die Sache anders aus. Dann müssen wir den Eigentümer ausfindig machen.“
Da packte Maad Muhammad beim Kragen und begann laut zu schreien, und Muhammad ergriff Maads Handgelenk. Die meisten Kinder standen auf der Seite Maads, nur einige wenige gaben Muhammad Recht. Es entstand ein wilder Tumult. Hausbewohner, Nachbarn und Vorübergehende kamen hinzu. Sagten: „Was ist los hier? Warum streitet ihr euch?“ Als sie von der Sache erfuhren, spalteten sie sich, ebenso wie die Kinder, in zwei Gruppen: Pro und Contra Muhammad! Die Angelegenheit spitzte sich zu. Da, im letzen Augenblick, kam der Ausrufer der Stadt vorbei und rief: „Leute! Hört her! Ein Gast unserer Stadt hat seinen Geldbeutel verloren. Dem, der ihn seinem Eigentümer zurückbringt, sei unser Dank!“ Niemand sprach etwas. Alle schwiegen. Muhammad aber rief den Ausrufer zu sich und sagte: „Dort drüben ist etwas gefunden worden. Vielleicht ist es das, was gesucht wird?“ Erneutes Lärmen und Rufen. Jeder sagte etwas, – die einen protestierten, die anderen pflichteten Muhammad bei. Es ging hin und her. Abdul Mutalib erfuhr von dem Tumult. Er schickte Hamzah, seinen Sohn – ein Onkel Muhammads – hin zu jenem Haus, vor dem die Leute standen und diskutierten. Hamzah kannte alle, und alle wussten, dass er aufrichtig und zuverlässig war und bereit, sich um der Gerechtigkeit willen selber aufzuopfern. Als sie ihn kommen sahen, wurden sie still. Hamzah meinte: „Uns ist so einiges zu Ohren gekommen, aber über die Einzelheiten wissen wir nicht Bescheid. Jedenfalls: Muhammad ist aufrichtig und gewissenhaft. Was er sagt, stimmt! Niemals lügt er!
Wer das bestreitet, ist im Unrecht. Jedenfalls: Entweder bringt ihr das Geldsäckchen freiwillig her, damit ich sehe, ob es von jenem Mann ist oder nicht…. Oder ich werde andere Seiten aufziehen! Wir dürfen das Recht nicht mit Füßen treten. Dem Eigentümer ist das zu geben, was ihm gehört. Wer mir von euch zustimmt, soll sich hier zu mir stellen! Die Mutter Maads, die das Treiben auf der Straße durch einen Spalt in der Haustür mit angesehen hatte, war besorgt, dass es zu einem Handgemenge kommen könnte. Sie holte den Geldbeutel und warf ihn Hamzah zu. Dabei sagte sie: „ Streit ist nicht notwendig. Es sind Kinder. Kinder wissen nicht, was sie tun. Mein Junge hat keine Schuld! Den Geldbeutel hast du nun, – alle Jungen haben ihn gefunden, nicht nur meiner. Sieh nun nach, wem das Geld gehört und gib es dem Eigentümer zurück! Wir wollen keinen Streit!“ Der Mann aus der Steppe wurde geholt. Als Hamzah ihm dem Geldbeutel zeigte, sagte er: „Ja, das ist er. Das ist meiner. Seht nur, in ihm sind 70 Gold- Dinar, 100 Silber – Dirham und ein wenig Kleingeld, so wie ich es gemeldet habe!“ Niemand sprach etwas. Sie sahen den Mann an und wussten, dass er die Wahrheit sprach. Als ihm sein Geldbeutel ausgehändigt wurde, meinte er: „Ich danke euch allen! Auch ich bin nun zu etwas verpflichtet. Schließlich weiß ich, was sich gehört! Wie viel Kinder waren es, die den Geldbeutel fanden?“ Man zählte sie, es waren sechsundzwanzig. Muhammad sagte: „Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich habe das Beutelchen nicht gefunden, sondern nur gesehen, dass es gefunden wurde. Dass ich hier bin, ist nur deswegen, weil ich das Recht verteidigen wollte!“ Der Mann aus der Steppe gab jedem der fünfundzwanzig Kinder einen Dinar und einen Dirham als Belohnung und war froh und zufrieden. Muhammad ergriff nun Maad bei der Hand uns bat: „Sei nicht böse auf mich, Maad. Ich möchte, dass wir Freunde sind, gute Freunde. Gute Freunde aber sind aufrichtig! Ist die Sache nicht gut ausgegangen? Oder wäre es dir anders lieber gewesen?!“ Maad antwortete: „Doch, es ist gut so, wie es gekommen ist. Wir haben Geld bekommen, und der Mann ist ebenfalls zufrieden und glücklich. Das, was wir bekommen haben, ist uns „halal“ (erlaubt), das heißt, wir brauchen uns deswegen nicht zu schämen. Ich bin froh, dass du standhaft geblieben bist!“ Der Mann aus der Steppe und Hamzah gingen zurück zu Abdul Mutalib und erzählten ihm alles. Abdul Mutalib bestätigte, dass Muhammad in allen Dingen ehrlich und zuverlässig sei…
Abends, zu Hause, wollte er Muhammad loben. Dieser aber bat: „Eines müssen wir noch tun!“ „Was denn?“, fragte sein Großvater. Er: „Wir wollen Haleh bitten, eine leckere Süßspeise zu kochen, die wir dann zu Maads Mutter bringen, damit sie, Maad und seine Familie sich freuen. Die Mutter von Maad hat gut gehandelt. Obwohl sie das Geld brauchen konnte, war es ihr dennoch lieber, darauf zu verzichten. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Haleh, die Frau von Abdul Mutalib, meinte freundlich: „Gut, Muhammad, das will ich gerne tun!“ Noch am gleichen Abend bereitete sie eine leckere Süßspeise zu, die sie am nächsten Morgen zu Maads Mutter bringen wollten. Der Morgen kam. Wieder hatten sich die Nachbarskinder im Hause Maads eingefunden und spielten. Maad sagte zu ihnen: „Gott sei dank ist die Sache gestern gut abgelaufen. Wenn wir das Geld für uns behalten hätten, würden wir dauernd ein schlechtes Gewissen haben und uns vor allen schämen, nicht war? Wirklich! Muhammad ist ein prima Freund!“ Indem er das sagte, klopfte es an der Haustür. Haleh, Muhammad und einige Freundinnen Halehs waren mit einer großen Schüssel Halwah (arabische Süßspeise) gekommen und sagten: „Wir möchten diese Halwah der Mutter Maads bringen, weil sie eine so einsichtige Frau ist.“ Froh setzten sie sich alle zusammen und ließen es sich gut schmecken… Alle in der Stadt erfuhren von diese Geschichte, und zwei Worten waren es, die seit jenem Tage dem Namen des kleinen Muhammads hinzugefügt wurden: „Aufrichtig und vertrauenswürdig“, das heißt im Arabischen: „Sâdiq“ und „Amîn“.
aus: Gute Geschichten von Mehdi Adaryazdi