Muḥammad Bāqir Aṣ-Ṣadr – Umrisse des Konzepts der Reformation und der Identität

Die zeitgenössische islamische Anschauung zur Reformation[1] und zur Identität

Die Frage nach der Reformation beschäftigt die muslimischen Denker bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung. Dies deshalb, um über den Fortschritt der islamischen Gemeinschaft nachzudenken, nachdem sie ihren bitteren Fall auf kulturellem und intellektuellem Niveau (und auch in anderen Bereichen) gleichermaßen erleben musste.

Was die Frage nach der Identität angeht, so ist diese Frage seit den Sechzigern und Siebzigern mit enormer Kraft wieder in den Vordergrund gerückt und hat uns gezeigt, in welchem besorgniserregenden und keinesfalls beneidenswerten Zustand sich die islamische Gemeinschaft befindet.

In der Angelegenheit der Reformation übe ich zweifelsohne Selbstkritik. Ich beschäftige mich in diesem Zusammenhang mit der Analyse der Gründe der Regression und des Rückfalls. Ich beschäftige mich mit neuen Vorschlägen und nicht mit denen, die sich immer nur wiederholen – schließlich wären wir wohl kaum in unserer derzeitigen Lage, wenn alle diese wiederholten Herangehensweisen in ihrer Form nützlich gewesen wären.

Was andererseits die Frage nach der Identität angeht, so fürchte ich um mich selbst und ich kritisiere all jene, denen ich die Verantwortung für das gebe, was in der heutigen großen islamischen Welt Realität ist.

Alle Werke des ehrenwerten Sayid Muḥammad Bāqir Aṣ-Ṣadr (1400 n. H.[2]) widmen sich der Antwort auf eben diese beiden Fragen. So können wir einen Teil seiner Arbeit für die Beantwortung der Frage nach der Reformation heranziehen. Hier sprechen wir von kritischen Ansätzen innerhalb unserer islamischen Mitte und einem Lösungsansatz für die Probleme, die in unseren Gedanken vorhanden sind – ebenso wie in unserer Umgebung, in unserem gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben und in unseren Visionen und Sichtweisen.

Was den anderen Teil seiner Anstrengungen und seiner Bemühungen betrifft, so galten diese dem Ziel, die Identität zu schützen und sie gegen jene gefährlichen, äußeren Einflüsse zu verteidigen.

Wir können die Arbeiten des Herrn Aṣ-Ṣadr also entsprechend aufteilen und sehen dabei, dass er sich bei einigen seiner Analysen intensiv mit der Angelegenheit der Reformation auseinandergesetzt hat, während er bei anderen die Identität und die Entwicklung der islamischen Gesellschaft im Vordergrund sah.

Die größte Herausforderung, der sich ein muslimischer Denker gegenüber sieht, ist das Erfordernis, die Wichtigkeit der Identität und die der Reformation gleichermaßen in Einklang zu bringen. Warum jedoch?

Weil wir bei der Angelegenheit der Reformation Kritik an uns selbst üben und uns selbst in der Verantwortung sehen. Und so wiederholen wir (immer wieder aufs Neue): Wir sind uns uneinig, wir sind zurückgefallen, wir leiden an einem Fehler innerhalb unserer Gedanken und innerhalb unseres gesamtgesellschaftlichen Verstandes. Was aber die Angelegenheit der Identität angeht, so blicken wir hier vielmehr auf die anderen. Man verteidigt und man legt (sinngemäß) seine Identität in einen (geschützten) Bereich – hier genauer seine zivilisierte Identität, seine islamische Identität, seine konfessionelle Identität. In anderen Fällen auch seine nationale Identität und (sicher) auch weitere. Ich stehe also innerhalb dieses Bereiches und an seinen Mauern und reagiere auf die Geschehnisse, die um mich herum passieren.

An genau dieser Stelle kann man sich das Folgende fragen: Wie kann ein muslimischer Denker auf der einen Seite seine eigene Gegenwart und auch sich selbst kritisieren und den Wagemut besitzen, die vorhandenen Herausforderungen lösen zu wollen – während er im selben Moment genau diese Gegenwart gegen alle anderen zu verteidigen versucht? Vor Fremden, vor einer kulturellen Invasion, vor einer Globalisierung und vor den Problemen, die bei ihm von außerhalb seines geographischen und sozialen Klimas ankommen? Die Fähigkeit des muslimischen Denkers, an dieser Stelle das Gleichgewicht zu halten, ist schließlich genau der Weg, um diese Angelegenheit lösen zu können. Wir finden dabei Personen, die ihre eigene innere Welt so dermaßen kritisieren und schließlich vollständig westliche Wege wählen. Die Gewaltigkeit ihrer Kritik gegenüber der Realität brachte sie am Ende dazu, ihre eigene islamische Gemeinschaft zu leugnen. Schließlich wurden sie selbst Fremde in ihrer eigenen Welt. Ihr eigener Charakter bestand letztlich nur noch aus der Fähigkeit, Kritik zu üben, eben zur islamischen und arabischen Welt, wie auch zur nationalen und gesamtgesellschaftlichen Lage, die in unserer Gegenwart heute vorherrscht.

Auf der anderen Seite sehen wir einige unter uns, die sich vor Problemen fernhalten und unsere inneren Herausforderungen aus unserer Gesellschaft herauszutragen versuchen. Alle unsere Probleme kommen für sie aus dem Westen – wir hingegen leiden für sie unter keinerlei Problem. Aufgrund dessen müssen wir keine unserer inneren Angelegenheiten, aus ihrer Sicht jedenfalls, in irgendeiner Form überdenken – weder unsere gesellschaftlichen, noch unsere kulturellen oder ähnliche Gedanken.

Die Fähigkeit, zwischen diesen beiden Positionen ein Gleichgewicht zu schaffen ist für den muslimischen Denker der Weg zum Erfolg. Und ich denke, dass der ehrenwerte Muḥammad Bāqir Aṣ-Ṣadr überragend darin war, genau das auch umzusetzen. Er hat weder darauf verzichtet, zu verteidigen, noch ist er zu sehr in Kritik verfallen – er hat es am Ende vielmehr verstanden, zwischen diesen beiden Herangehensweisen gezielt zu einen und auch einige der vorhandenen Probleme innerhalb unserer inneren Ebene anzugehen und zu lösen. Ebenso auch einige bestehende Problematiken, die im Zuge der Rechtfertigung genau dieser inneren Ebene aufkommen.

Aus diesem Grund fasse ich nachfolgend die bekanntesten wissenschaftlichen Beiträge zur Reformation und zur Identität vom ehrenwerten Sayid Aṣ-Ṣadr auf Grundlage genau dieser beiden Positionen zusammen. Ich kann dazu sieben wissenschaftliche Gedanken anführen, die seine Schule besonders kennzeichnen. Ein Teil dieser Gedanken gilt der Antwort auf die Frage nach der Reformation, während ein anderer Teil sich mit der Frage nach der Identität auseinandersetzt. Ein Teil wiederum ist (selbst-) kritischer Natur, während der andere verteidigend Stellung bezieht.

1.  Die methodische Dimension – Neuausrichtung der Systematik des Denkens

Die methodische Dimension (al-buʿd al-manhaǧī) oder auch die Systematik des Denkens hat eine fortschrittliche Entwicklung im Leben von Herrn Aṣ-Ṣadr erfahren. Aṣ-Ṣadr nahm an, dass die Art unserer Bemühungen zur Lösung der Probleme, bezogen auf die Systematik des Denkens an sich, fehlerhaft war und dass es an uns ist, diesen Fehler zu beseitigen und eben diese Lücke zu schließen. Aṣ-Ṣadr sagte dabei nicht, dass die gesamte Systematik insgesamt fehlerhaft sei, vielmehr sagte er, dass es einige Lücken darin gäbe, die wir schließen müssen. Er nahm an, dass die Logik des Aristoteles nicht ausreiche, um alle unsere heutigen Probleme lösen zu können. Vielleicht kann es sogar sein, dass die aristotelische Logik durch ihre Anwendung in den Geistes- und Sozialwissenschaften ganz neue Probleme innerhalb derselben hervorruft. Aṣ-Ṣadr nahm weiter an, dass weder die aristotelische Logik, noch die reine theoretische Philosophie in der Lage seien, unsere eigene Identität zu schützen – und auch nicht die Lücken zu schließen, die in unserer heutigen Realität vorhanden sind. So widmete er sich einer neuen Interpretation der Systematik des von uns gelebten Denkens. Er war dabei aber nicht gegen die Logik des Aristoteles, wenngleich wohl viele unter uns genau das über ihn denken. Diese Meinung entspricht keinesfalls der Wahrheit. Vielmehr nahm er an, dass es durchaus möglich sei, dass wir einen sinnvollen Kompromiss finden können. Präziser, dass wir in unserer islamischen Lehre gleichzeitig von mehreren logischen Methoden Nutzen ziehen können und dass wir diese islamischen Lehren nicht monopolartig auf nur einer logischen Methode aufsetzen dürfen. Wenn wir also die logischen Methoden und die Methoden unseres Denkens bei unseren islamischen und religiösen Lehren entsprechend bereichern, profitieren wir von einem zusätzlichen Nutzen. Die Informationen und Erkenntnisse sammeln sich dabei entsprechend an. Herr Aṣ-Ṣadr beschäftigte sich in seiner Forschung mit der Logik der Induktion und der Wahrscheinlichkeitstheorie, um neue Mechanismen für die weitere islamisch-wissenschaftliche Arbeit zu etablieren.

Ich möchte an dieser Stelle nicht alle seine Ansichten untersuchen, sondern vielmehr zusammenfassend darauf aufmerksam machen, dass er eben die Logik der Wahrscheinlichkeit und auch die Induktion innerhalb der Kalām-Wissenschaft[3] angewandt hat, etwa im Buch «Mūǧaz Uṣūl Ad-Dīn» (Abriss der Glaubensüberzeugungen). Ebenso auch beim Nachweis in Bezug auf das Sein Allāhs, erhaben ist Er, wie wir sehen werden. Auch bei der Wissenschaft des Uṣūl Al-Fiqh[4] nutzte er diese Konzepte und auch beim Gelehten-Konsensus[5], bei der Wissenschaft der Tradenten (ʿilm ar-riǧāl) [6] und bei der Ḥadīṯwissenschaft (‘Ilm al-ḥadīṯ)[7] – Letzteres im Zuge seiner Studien zu Tradenten, über die bekannt ist, dass sie keine Inhalte übernommen haben, wenn kein Vertrauen in die zitierten Personen vorhanden war.

Aṣ-Ṣadr nutzte einen neuen Logikansatz und brachte damit neue Schätze in unserem Wissenssystem für uns hervor. Er sagte dabei nicht, dass die aristotelische Logik nicht in der Lage wäre, uns Nutzen in diesem intellektuellen Bereich zu bringen, sondern vielmehr, dass wir verschiedene Ansätze miteinander kombinieren können. Und welches Problem wäre denn daran, mehr als ein logisches Konzept zu haben?! Welches Problem wäre daran, wenn unsere islamische Forschung von mehr als einer Wissensquelle profitieren könnte? Es gibt an dieser Stelle absolut kein Problem daran. Ganz im Gegenteil, die Forschungen von Sayid Aṣ-Ṣadr haben bewiesen, dass wir der Religion einen Dienst erweisen können und viele der Lücken schließen können, wenn wir die Vielfalt dieser Methoden zugleich (berücksichtigen und) anwenden.

Halten wir also fest, dass die ersten Angelegenheiten, denen sich Sayid Aṣ-Ṣadr annahm, die Systematik und die Methoden unseres Denkens waren, die wir heute nutzen. Er suchte besonders nach der Antwort auf die folgende Frage: Welche Verfahren sollten angewandt werden, um die intellektuellen Probleme zu lösen, unter denen wir leiden? Ist es wirklich erforderlich, dass wir uns auf eine logische Methode beschränken, oder ist es möglich, dass wir uns auch neuen logischen Schulen gegenüber öffnen? Und dass wir uns davon loslösen, in einer einzigen Methode gefangen zu sein. Genau so bereichern wir nämlich unser religiöses Denken und wir bereichern gleichermaßen auch unsere islamischen Erkenntnisse! Aṣ-Ṣadr nahm im Übrigen dasselbe an, wie auch Muḥammad Iqbāl. Auch auf die Logik der Wahrscheinlichkeit und Induktion machte schon zuvor Muḥammad Iqbāl in seinem Buch «Taǧdīd Al-Fikr Ad-Dīnī» (Reformation des religiösen Denkens) aufmerksam. Dennoch aber mit einem feinen Unterschied. Eben dem, dass Iqbāl die gesamte Schuld unserer Abirrung in der aristotelischen Logik sah. Im Gegensatz zu dem, was wir – soweit zumindest meine Kenntnis reicht – bei Sayid Aṣ-Ṣadr in Bezug auf die Offenheit der Methoden der induktiven Logik gegenüber sehen.

Diese Eigenschaft und Besonderheit in der Anschauung von Sayid Aṣ-Ṣadr hat zum Ziel, auf einige der Fragen der Reformation eine Antwort zu geben und zugleich auch unsere inneren, religiösen Angelegenheiten anzugehen.

2.  Die Ganzheitlichkeit und die theoretische Verherrlichung

Die Ganzheitlichkeit (al-kulliyāniyah) und der Theoretizismus (an-naẓrāniyah) sind – wenn man so will – weitere Merkmale der Denkansätze Aṣ-Ṣadrs. Wir sehen hier besonders, dass Aṣ-Ṣadr in seinen Lehren den sogenannten Al-Fiqh Al-Fardī Al-Inkimāšī (das rezessive, individuelle Recht) kritisierte. Der heutige islamische Rechtswissenschaftler etwa behandelt in den klassischen Richtungen des Fiqh das eine Teilthema, um dann anschließend das zweite Teilthema zu behandeln, dann das dritte und das vierte – und ist so ständig abhängig von einem Thema, das auf ein jeweils anderes folgt. Er bewegt sich also immer nur von einem Thema zum nächsten. Wie der, der mittels einer Brücke von einer Insel zur nächsten läuft – wohlgemerkt läuft – und nicht (beispielsweise) das Flugzeug nimmt, um von einer Insel zur nächsten zu gelangen. Er schaut also nicht von oben auf die Dinge herab, um sinngemäß alle diese Inseln und Brücken (überblickend auf einmal) zu sehen, sondern eben nur nacheinander, eine Insel nach der anderen. Er schließt erst eine Angelegenheit ab, um mit der nächsten anzufangen. Er blickt auf die Dinge aus der Bodenperspektive und genau das ist der Fiqh At-Taǧzī’ī Al-Fardī (das individuelle, fragmentierende Recht), auf den Aṣ-Ṣadr mit dem Begriff Al-Fiqh Al-Inkimāšī aufmerksam machte. Aṣ-Ṣadr erkannte, dass die islamische Gemeinschaft zu seiner Zeit nicht – ausschließlich – nur detaillierte Teillösungen brauchte, sondern sie brauchte gleichermaßen auch neue Theorien. Es ist demnach erforderlich, dass unser Verstand nicht mehr nur der Verstand ist, der einzelne intellektuelle Aspekte isoliert betrachtet, sondern vielmehr überblickend und von oben herab (Vogelperspektive).

Wie auch Jalāl ad-Dīn ar-Rūmī in seinem Gedicht schon sagte:

Wenn Dich Leid trifft, dann umarme es mit Liebe –

und schau von der Spitze der Kuppel auf Damaskus herab[8]

Schau also nicht auf Damaskus, während Du einfach nur an seinen Toren stehst, weil Du dann vielleicht nichts findest, an dem Du Gefallen hast. Vielleicht ist ein solcher Anblick dann nur wenig faszinierend für Dich. Steig vielmehr auf ihre Hügel und Kuppeln und schau (von oben) auf das Ganze – und Du wirst sehen, wie schön die Stadt doch ist.

Es war Herrn Aṣ-Ṣadr ein Anliegen, uns und unser islamisches Denken aus eben diesem Dilemma – der Fragmentierung – zu befreien. Diesem Dilemma, das uns zwingt, immer nur von einer Angelegenheit zur nächsten zu gehen, ohne eine Möglichkeit, wirklich große Lösungen zu finden. Ein Zustand, der uns unfähig macht, neue Ansichten zu entwickeln, die die Gemeinschaft emporsteigen lässt. Natürlich kann es sein, dass kleinere Einzelheiten mit so einer Herangehensweise zu lösen sind, allerdings sind wir wohl kaum in der Lage, all die tausenden von kleineren Einzelheiten, die mitten unter uns vorherrschen, (mühsam nacheinander) so anzugehen. 

Aufgrund dessen ist es erforderlich, dass der muslimische Verstand sich weiterentwickelt, von der Stufe der Analyse einzelner, kleinerer Teilprobleme – wenngleich dies nach Sayid Aṣ-Ṣadr eine erforderliche und auch lobenswerte Stufe ist – hin zum Verstand, der alle Teilthemen gleichermaßen überblickend betrachtet und behandelt. Nur so kann ein vollständiges Bild entstehen. Weg also vom Betrachten einzelner Mosaiksteine und hin zum wirklichen Gesamtbild des Ganzen.

Genau das hat Herrn Aṣ-Ṣadr dazu gebracht, über den gesamtgesellschaftlichen Fiqh (al-fiqh al-muǧtamaʿī) und einen Fiqh der Theorie (fiqh an-naẓariyah) nachzudenken. Es kann sein, dass ich das Buch „Al-Makāsib[9] (die Erträge) und die Erkenntnisse darin zehn oder auch zwanzig Jahre studiere, sie lehre, sie erforsche und (schließlich) darin eine eigene Rechtsansicht erlange und dennoch nicht in der Lage bin, eine juristische, wirtschaftliche Theorie aufzustellen. Schließlich geht es hier nicht darum, nur einzelne Teilaspekte zu beleuchten, sondern am Ende, nach Deiner Rechtsfindung (iǧtihād) darin, ein umfassendes Gesamtbild zu schaffen.

Der muslimische Rechtsgelehrte und Denker beschäftigt sich nicht mit den Problemen einzelner Personen, sondern mit dem (daraus resultierenden) Problem der Gesellschaft an sich. So wird das einzelne Problem am Ende ein Problem der gesamten islamischen Gemeinde. Gleichermaßen geht es dann darum, die Probleme auch genau auf dieser Ebene zu lösen – auf der Ebene einer Gemeinschaft und nicht auf der Ebene einzelner Personen. Das Denken, das sich auf die Problemlösung einer Gemeinschaft bezieht, setzt eine Weiterentwicklung des Verstandes voraus – weg von der Fragmentierung und vom Blick auf kleine, einzelne Teilbereiche, hin zur umfassenden Phase der großen, ganzheitlichen Theorie. Und genau das hat Sayid Aṣ-Ṣadr getan. Es ist so, als fühlte er, dass unser eigentliches Problem darin liegt, dass wir uns mit einzelnen, kleineren Themen auseinanderzusetzen versuchen und von einer juristischen Tür zur nächsten gehen, ohne dass wir es schaffen ein wirklich ganzheitliches Bild des Lebens aufzuzeigen. Das ist ein signifikanter Punkt und der Grund, warum Herr Aṣ-Ṣadr diesen muslimischen Verstand vor dem Ertrinken in zu vielen Einzelheiten zu retten versuchte, um diesen ins Lichte der Ganzheit und der allgemeinen Regeln zu rücken, sodass es unseren islamischen Wissenschaften möglich ist, die gesamte Gesellschaft führen zu können, so wie sie auch einzelne Personen führt und damit sie die islamische Gemeinschaft führt, wie sie auch ihre einzelnen Mitglieder führt. So ist es mit der Attitüde einen einzelnen Menschen zu leiten, nicht möglich eine Gesellschaft zu leiten und genauso wenig eine ganze Nation. 

Auch das ist eine weitere konstitutive und bedeutende Erkenntnis bei dem Versuch von Sayid Aṣ-Ṣadr, um einen gesamtgesellschaftlichen Fiqh, einen Fiqh der Nation, einen wirtschaftlichen Fiqh und einen politischen Fiqh zu finden. Andersherum darf es kein subjektiver Fiqh sein, der nur hier oder dort eine Beziehung zur Politik, zur Wirtschaft oder zum gesellschaftlichen Leben besitzt. 

3.  Der Weg von der These zur Praxis

 Beim Begriff Al-‘Amalāniyah bzw. der praktischen Dimension, sprechen wir von der Entwicklung des religiösen Denkens – weg von den rein theoretischen Studien und hin zu den tatsächlich praktischen Studien. Und auch das ist ein wesentlicher Punkt, weil die Denker der Reformation unsere islamischen Ansätze seit dem 19. Jahrhundert (bis heute) wegen einiger Themen in den Zeiten der Dekadenz in schlechtes Licht rücken wollen. Versunken wäre unser Denken, sagen sie, in Abstraktion und dies völlig abseits von der Realität. Als ob der muslimische Denker in einer Ecke seines Zimmers säße und dann Problemsituationen annehmen würde, die in der wahren Welt gar nicht existieren, um dann damit anzufangen, an der Lösung dieser Probleme zu arbeiten, obwohl es weder diese Probleme gibt, noch irgendeinen heutigen Bedarf an einer Lösung derselben.

 Ich möchte ein aktuelles, praktisches Beispiel geben. Es gibt einige Lehransätze in der islamischen Jurisprudenz, die sich mit Banken auseinandersetzen – ihre Verfasser beschäftigen sich mit Banken und dem Bankwesen und stellen dabei – zum Beispiel – sieben Hypothesen auf. Anschließend fangen sie damit an, diese Hypothesen nachzuprüfen. Hätten sie sich jedoch nur etwas angestrengt und wären einfach einmal in die Bank gegangen, dann hätten sie festgestellt, dass es heute eigentlich nur eine dieser sieben erdachten Hypothesen gibt. Warum also sollte ich mich mit sieben Hypothesen auseinandersetzen, die eigentlich gar nicht existieren? Und wieso soll ich einen Teil meiner Kraft und meiner Möglichkeiten dafür aufbringen, um ein Problem zu lösen, dass es unter heutigen Muslimen gar nicht gibt? Und selbst wenn dieses Problem vielleicht morgen tatsächlich aufkommen sollte, so wird es dann eine neue Generation von Rechtswissenschaftlern geben, die sich diesem dann annehmen wird.

Das ist ein Punkt, auf den auch Imam Khomeini in einigen seiner Forschungen aufmerksam gemacht hat. Er kritisiert dabei die stereotypischen Ansätze, die besagen, dass wir einige Themen der Grundlagen der islamischen Rechtswissenschaft erforschen, um unseren eigenen Geist zu schärfen. Sollen wir uns also mit den praktischen Problemen beschäftigen, mit denen wir unseren Geist zu schärfen versuchen, um dann anschließend zu den Problemen überzugehen, die gar nicht vorhanden sind?!

Hier finden wir den muslimischen Denker – wie auch den ehrenwerten Sayid Muḥammad Bāqir Aṣ-Ṣadr – der den muslimischen Verstand von der abstrakten Ebene, in der man (entfernt) über der Erde schwebt, um Probleme zu lösen, die es gar nicht gibt, auf die Ebene der Realität, bringen will. Was aber hat er hierfür genau getan?

Selbst die Glaubensüberzeugungen (uṣūl ad-dīn) und die Kalām-Wissenschaft – schauen Sie selbst, wie Herr Aṣ-Ṣadr sich bemühte, auch diese in die gesellschaftliche Struktur und in das gesellschaftliche Leben einzubringen. Der gesellschaftliche Blick auf die Glaubensüberzeugungen und auf die religiösen Praktiken, die Aṣ-Ṣadr in seinen Werken erwähnte, spielen eine wichtige Rolle im islamischen Denken unseres praktischen Lebens. Kein stures Festhalten und Eitelkeit lediglich wegen ideeller und analytischer Überlegenheit, sondern vielmehr das Herabkommen auf den Boden der Tatsachen, um die Probleme lösen zu können. 

An genau diesem Punkt wollen wir auf Sayid Aṣ-Ṣadr in Bezug auf sein Interesse an den Prioritäten schauen. Auch Scheich Murtaḍā Muṭahharī hat sich hiermit auseinandergesetzt. Wir leiden an einem Fehler beim Einordnen dieser Prioritäten. Muṭahharī führte hier ein Beispiel an und beschrieb, dass es einige gibt, die das Grab von Imām Al-Ḥusain (a) besuchen wollen. An der irakisch-iranischen Grenze lügen sie dann aber (ob ihres Reisegrundes), um die Grenze passieren zu können. Sie begehen also etwas Verbotenes, um etwas Wünschenswertes zu erreichen. An genau dieser Stelle verschiebt sich die Waage der Prioritäten. Dies ähnelt in deutlicher Weise der Körpertemperatur, die, wenn sie in ein Ungleichgewicht gerät, zu einem Ungleichgewicht der gesamten körperlichen Funktionen führt. Der Mensch beginnt sich selbst jahrelang mit Themen auseinanderzusetzen, die keinen wirklichen Wert haben und vernachlässigt dabei sehr wichtige Themen, aufgrund flauer, scheinbarer Wertschätzung.

Aus diesem Grund kam der muslimische Denker – wie Sayid Aṣ-Ṣadr – und nahm sich der Glaubensüberzeugungen und der theoretisch-abstrakten Ansätze der Kalām-Wissenschaft an und versuchte, sie in unser gesellschaftliches Leben zu integrieren. Schauen Sie selbst wie er in der Einleitung seines Buches „Falsafatunā“ (Unsere Philosophie) versuchte, dieses in unser Leben einzubinden – und er sagte, dass die Weltanschauung für uns ein Maßstab ist, mit dem wir unser gesellschaftliches, politisches und persönliches Leben verändern können.

Um das Wiederbeleben der Angelegenheiten geht es, die in unserem praktischen Leben am abstraktesten sind. Es geht um eben diese abstrakten Lehren, die in praktisch umsetzbare Lehren verschoben werden müssen, die in der Lage sind, die Situation der Muslime nachhaltig zum Besseren zu verändern. Genau diese Art der Denkweise gibt uns die Kraft dafür.  

4.  Der Realismus oder die Reise von der Realität zur Schrift und zurück

 Das prominenteste Beispiel, dass ich in Bezug auf die realitätsbezogene Dimension anbringen möchte, ist „At-Tafsīr Al-Mauḍūʿī[10] (die thematische Exegese). Sayid Muḥammad Bāqir Aṣ-Ṣadr wollte die Art unserer Rückkehr zu den Schriften verändern und unseren Blick auf eine neue Methode ausrichten. Wir studieren in den Islamwissenschaften, wenn wir ein bestimmtes Stadium erreichen, ein juristisches Kapitel, dann suchen wir uns eine bestimmte juristische Angelegenheit heraus, um diese zu erforschen. Ich finde dann vor mir etwa Schriften aus dem Koran oder den Hadiṯen, ebenso auch Worte der Gelehrten und Rechtswissenschaftler aus allen Zeiten – und alle diese und weitere Sammlungen unseres (islamischen) Erbes. Daraufhin fange ich an, diese (Texte) zu analysieren, und bin so von Anfang bis Ende mit diesen Texten beschäftigt. Und wenn wir ein solches Thema zusammenfassen wollen, ziehen wir einen Kreis von einer Schrift zur anderen.

Sayid Aṣ-Ṣadr sagt, dass er nicht zuerst mit den Schriften beginnt. Und warum tut er das nicht? Weil man zuerst die Realität verstehen muss. Die Realität des menschlichen Lebens. Und die Sorgen des heutigen Muslim und seine Probleme, seine Krisen, die Hintergründe seiner Veränderung und die Gründe der Verschlechterung seines Zustands. Ich ziehe meine Fragen aus genau diesem Status quo und bin am Anfang also absolut realistisch – ich gehe somit zur Realität und ich starte auch dort. Ich nehme die Fragen und die Sorgen aus dieser Realität und erst dann gehe ich zu den Schriften. Ich setze mich vor dem Koran und der Sunna auf meine Knie und sage zu beiden: ›Was kann ich von euch entnehmen und nutzen, um damit unsere realen Probleme zu lösen?‹ Ich fange somit in der Realität an und gehe zur Schrift. Und wenn ich meine Antwort aus den Schriften gefunden habe, trete ich meine Rückreise an – von den Schriften wieder zurück zur Realität. Ich trage mit mir, was ich aus diesen heiligen Schriften entnehmen konnte und gehe damit in die Realität, um sie durch diese religiösen Werte zu verändern.

Wir halten fest: Mein Weg ist von der Realität zur Schrift. Dann von der Schrift wieder zurück zur Realität. Keinesfalls aber ist mein Weg von der Schrift zur Schrift – als hätte die Realität überhaupt keinen Wert für mich. Genau diese Herangehensweise wird die Lehre der Al-Araʾaytiyūn genannt, einer Lehrschule, die im zweiten Jahrhundert nach der Hidschra in Erscheinung trat. Genau zu dieser Zeit wurde ihnen dieser Name gegeben. Einigen Überlieferungen der Ahl al-Baīt (a) zufolge wurden sie so genannt, weil sie bei einer religiös-juristischen Fragestellung immer zu sagen pflegten: „Siehst Du[11], wenn dieses und jenes wäre, was wäre dann das Urteil dazu“? Sie wurden am Ende genau deshalb so genannt.

Ich möchte nun vielmehr weg vom „Siehst Du, wenn dieses und jenes wäre …“, zum „Siehst Du, was hier gerade passiert ist – was ist die Lösung dafür?“. Genau das ist das Wesen im At-Tafsīr Al-Mauḍūʿī und auch in anderen Werken von Herrn Aṣ-Ṣadr. Der detaillierte Blick also auf die Probleme unserer Zeit, um sie zu den Schriften zu tragen und um dann wiederum die Antworten dazu zu finden. Und um schließlich zur Realität zurückzukehren und diese im Lichte der Schriften zu verändern.

Das ist die Dimension der Realität im Denken von Sayid Aṣ-Ṣadr. Die Reise also von der Realität zur Schrift und die Reise zurück von der Schrift zur Realität. Um die Realität geht es also zweimal, nämlich gleich zu Beginn und schließlich wieder am Ende. Sie ist der Anfang und das Ende, im Gegensatz zum Urteil selbst, denn das Urteil ist die Schrift zu den religiösen Angelegenheiten.

Wir glauben, dass die Lehre der thematischen Exegese (at-tafsīr al-mawḍūʿī) – besonders – in dieser Form zwischen der Al-Kulliyah An-Naẓrāniyah, d. h. dem zweiten Merkmal, und dem Realismus (al-wāqi’iyah) eint. Al-Kulliyah An-Naẓrāniyah, weil es eine ganzheitliche Sicht eines koranischen Sachfalles geben möchte und Realismus, weil die »mawḍūʿiyah« (Objektivität) in dem Begriff »at-tafsīr al-mauḍūʿī«, so wie es eingen Worten von As-Sayid Aṣ-Ṣadr entnommen werden kann, dem Wort »Subjektivität« (aḏ-ḏātiyah) gegenübersteht[12], d. h. die reale Außenwelt. Er sagt selbst, dass er in der Realität beginnt und dann geht er mit ihren Fragen zum koranischen Text.

Somit wollte Sayid Aṣ-Ṣadr das Problem des fehlenden Realitätsbezugs (lā wāqiʿiyah al-fikr) des Denkens lösen, unter dem der muslimische Denker mehrere Jahrhunderte litt. Er wollte ihn auf die Stufe der Realität bringen, sodass es ihm möglich ist der islamischen Gemeinschaft zu helfen und ihre wissenschaftliche, gemeinschaftliche und auch religiöse Lage zu verbessern. 

5.  Die Wiederbelebung (al-iḥyāʾiyah) und die Vergegenwärtigung des Verborgenen

Die iḥyāʾiyah ist eine Disziplin, mit der sich – neben Sayid Aṣ-Ṣadr – viele Denker seit dem 19. Jahrhundert beschäftigt haben. Dies deshalb, weil viele Großgelehrte der Reformation der Meinung waren, dass eins der signifikantesten Probleme dieser Gemeinschaft (al-ummah) das Verborgensein einiger ihrer Säulen und Werte in ihrem Leben ist. Genau deshalb sprechen sie von den faraʾiḍ al-ġāʾibah, also den verborgenen Säulen. Genau jene Säulen und Werte, denen gegenüber die Muslime unachtsam waren. Jene Denker der Reformation erkannten, dass es Säulen und Gedanken und Theorien innerhalb des islamischen Erbes gibt, worin das Hauptproblem liegt, die allerdings (ausgestorben und somit) tot sind. Sie begannen schließlich genau deshalb mit der Wiederbelebung derselben.

Wenn wir uns die Erfahrungen von Sayid Aṣ-Ṣadr ansehen, können wir das Element der Wiederbelebung deutlich erkennen. So etwa die Wiederbelebung der Idee des islamischen Staates, die Wiederbelebung des Verständnisses für die Umsetzung der Scharia, die Wiederbelebung des Verständnisses, dass der Islam das Leben führt, die Wiederbelebung des (richtigen) Verständnisses für die Anstrengung (ǧihād), die Wiederbelebung der Bedeutung des Gebietens des Guten und des Verwehrens des Schlechten, die Wiederbelebung des (richtigen) Verständnisses für die aktive Rolle der Frau und weitere Punkte, über die Sayid Aṣ-Ṣadr schrieb oder auch sprach.

Es handelt sich um eine Reihe von großen Konzepten der Reformation, die in der Lage sind, unsere heutige Situation zu verändern und viele der vorhandenen Lücken zu schließen. Aṣ-Ṣadr bemühte sich um das Wiederbeleben vieler dieser Konzepte, er beschäftige sich mit ihnen und veröffentlichte dazu eine Menge. Jeder von Ihnen weiß genau, was er im politischen Fiqh, im gesellschaftlichen Fiqh und auch in weiteren Bereichen hervorbrachte. 

6.  Die Verteidigung oder ein Konzept des zivilisierten Widerstandes

Bei der Verteidigung (ad-difāʿiyah) übertreibt der ausgeglichene, muslimische Denker nicht bei der Kritik an der (eigenen) inneren Struktur. Genauso wenig übertreibt er bei der Kritik an dem, was von Außen kommt und er entzieht sich auch nicht seiner eigenen Verantwortung. Trotz all der kritischen Anläufe gegen unsere Lehransätze, gegen den unsererseits (angeblich) fehlenden Bezug zur Realität, gegen unser (angeblich) fehlendes Handeln, gegen unser Entfernen vom Fiqh der Theorie (fiqh an-naẓariyah) und dem theoretischen Denken im Allgemeinen – trotz all dieser Punkte verteidigte Sayid aṣ-Ṣadr seine Position von Anfang an bis zu seinem Lebensende. Von seinem Buch »Falsafatunā« (Unsere Philosophie) an, in dem er den islamischen Gedanken gegen marxistische, dialektisch-materialistische und allgemein historische Ansätze verteidigte, bis hin zu seinem Werk »al-usus al-manṭiqiyah lil-istiqrāʾ« (Die logischen Grundlagen der Induktion), in dem er die Kritik an unseren eigenen logischen Methoden und das Fördern der Entstehung neuer logischer Methoden in Einklang brachte. Neue Methoden, mit denen unsere Werte und Ansichten verteidigt werden können. Wir schauen uns in diesem Zusammenhang die letzten beiden Seiten des Werkes »al-usus al-manṭiqiyah lil-istiqrāʾ« an und wissen, dass all diese grandiosen Anstrengungen in Bezug auf die logischen Methoden das Ziel haben, die Sache von Allāh, erhaben ist Er, zu verteidigen und das göttliche Sein selbst und alles, was hinter der Materie und hinter der Natur (metaphysisch) vorhanden ist und gleichzeitig, um gegen die Richtungen des Naturalismus zu stehen, die seinerzeit in die islamische Welt eingedrungen sind.

Hier zeigt sich das Einfühlungsvermögen des muslimischen Denkers dafür, dass er verantwortlich für die Verteidigung seiner islamischen Gemeinschaft und seiner Angelegenheiten, seiner Gedanken und seiner Religion ist. Mit diesen Grundsätzen stach Sayid Aṣ-Ṣadr deutlich heraus – wobei ich keinesfalls sage, dass die anderen nicht auch herausstachen und keineswegs begrenze ich so etwas auf nur eine Person, wie andere sagen. Ich kann allerdings sagen, dass die reformistischen Denker sich hier unterschieden haben.

Sayid Aṣ-Ṣadr verband also zwischen der Verteidigung der Angelegenheiten der islamischen Gemeinschaft und des religiösen Denkens, und der Kritik an einigen fehlerhaften Ansätzen und dem Offenlegen einiger negativer Punkte in der religiösen Denkweise. Und das ist es schließlich, was die Kunst des Gleichgewichts bei der Beantwortung meiner ursprünglichen Frage nach der Reformation und der Identität ausmacht.

7.  Der Kritizismus[13] (an-naqdiyah) und die Sorgen einer internen Zersplitterung

Es gibt Gelehrte, von denen bekannt ist, dass sie Kritiker sind. Ich möchte keine Beispiele dazu anführen, um Diskussionen dazu zu vermeiden. Einige von ihnen sagen: Scheich Muḥammad Ğawād Muġniyah sei ein Mann, der einen Drang zur Kritik hatte. Das erste Buch, das er veröffentlicht hat, war eine Kritik an der gesellschaftlichen Situation in Ǧabal ʿĀmil[14]. Sein kritisches Gemüt kristallisiert sich hier in einer ziemlich frühen Phase. Wir finden auch andere Denker, in deren Schriften wir ständig Kritik finden. Dann gibt es wieder andere, die jeglicher Art von Kritik am Inneren unseres Systems ausweichen, so verzichten einige etwa, die Biographien verfassen, auf entsprechende Passagen, wenn es beispielsweise um Laster bestimmter Personen geht. Sie versuchen zu erklären und sagen: ›Wir wollen keine Probleme mit dieser Person.‹ Oder auch: ›Warum soll ich das erwähnen? Vielleicht gibt es darin ein religionsrechtliches Problem!!‹

Sayid Aṣ-Ṣadr hat im Zenit seiner verteidigenden Phase – wie wir bereits aufgezeigt haben – ebenfalls Kritik an unserer Lage geübt. Seine Erfahrung in dieser Sache kennt jeder noch besser als ich, wie seine Erfahrung bei der Kritik an der Lage unserer religiösen Hochschulzentren (ḥawzāt) und ihre Curricula und bei der Kritik an einigen gesellschaftlichen Phänomenen, die in unserem Leben vorhanden sind. Diese kritische Attitüde, die er in Bezug auf einige dieser Phänomene besaß, wird in mehr als nur einem seiner Bücher und Bestrebungen deutlich. Er hebt sich dennoch von der Mehrheit ab, weil er seine Kritik mit Besonnenheit übte – was allerdings eine entsprechende Geduld erfordert. Die Art seiner Kritik, mit der er herausstach, gibt uns dabei eine deutliche Inspiration in Bezug auf seine Ruhe, mit der er den Kern der Kritik deutlich werden lassen wollte. Im Gegensatz zu einigen anderen Gelehrten, die in einer viel betonteren und schärferen Weise Kritik übten. Sie denken, dass wir aufspringen müssen, um einen Nutzen aus der Kritik zu ziehen. Was aber Sayid Aṣ-Ṣadr angeht, so sind die historischen Umstände, innerhalb derer er lebte, zur Zeit des irakischen Regimes und der Krise, die die gläubige Gemeinde durchlebte, wie auch die allgemeine islamische Lage angesichts der »roten Flut« – alles dies war vermutlich ausschlaggebend dafür, dass er einen langfristigen Ansatz wählte, um an der inneren Kritik unserer Angelegenheiten zu arbeiten, seien diese, interne Angelegenheiten der religiösen Hochschulzentren oder spezielle gesellschaftliche. 

Wo befinden wir uns im Vergleich zum Konzept von Aṣ-Ṣadr? Ist die progressive, religiöse Rationalität stehengeblieben?

Ich nehme an, dass diese sieben Eigenschaften, die im Denken und Handeln von Sayid Muḥammad Bāqir Aṣ-Ṣadr vorhanden sind – die methodische Dimension, die Ganzheitlichkeit, die Praxis, die Realität, die Verteidigung, die Wiederbelebung und der Kritizismus – wenn wir sie lesen und wirklich reflektieren, dann können wir eine Antwort auf die folgende Frage geben: Hat sich Sayid Aṣ-Ṣadr wirklich eingesetzt, um eine Antwort des religiösen Denkens auf meine anfängliche Frage zur Reformation und Identität zu geben oder war er doch nicht in der Lage dazu?

Ich bin überzeugt, dass die Antwort nun ersichtlicher für uns ist. Er hat einen großen Beitrag dazu in diesem Gebiet geleistet. Es ist dabei weniger wichtig, sie alle zu kennen, sondern vielmehr, sie auch fortzusetzen. Es ist mir eine Freude, zum Schluss einen Vergleich oder auch ein Beispiel anzuführen, das einige Gelehrte erwähnten, um genau daraus zu lernen – ich habe dieses (an anderer Stelle) schon mehrfach erwähnt. Dieser Vergleich besagt: Es gab mal einen Vater, der Kinder hatte und eine Firma führte. In dieser Firma waren Angestellte beschäftigt und er zahlte ihnen ein entsprechendes, monatliches Gehalt. Im ersten Jahr erhöhte er ihre Gehälter um zehn Prozent. Auch im zweiten Jahr erhöhte er es um weitere zehn Prozent. Im dritten Jahr schließlich erhöhte er erneut um weitere zehn Prozent. Nach zehn Jahren verstarb der Vater und die Kinder erbten das Unternehmen. Sie teilten sich (in ihrer Meinung) auf: Der eine Teil war eher nüchtern und theoretisch, während die anderen systematisch-methodisch und objektiv waren.

Die erste Gruppe sagte: Unser Vater zahlte vor seinem Ableben einen gewissen Betrag als Lohn. Wir wollen deshalb genau diesen Betrag für immer so belassen und das soll unsere Politik bis zum jüngsten Tag sein. Dies deshalb, weil wir uns an genau das halten wollen, was unser Vater einst tat und weil wir nicht wissen, ob er in den weiteren Jahren weiter erhöht hätte oder nicht.

Die zweite Gruppe allerdings sagt: Nein, das ist keineswegs ein Folgen der Lebensweise unseres Vaters und seiner Gewohnheiten. Unsere Aufgabe und unser Handeln sollten wir aus seiner Erfahrung (und aus seinem Umgang) mit den Arbeitern ableiten. Und was war sein Weg? Er hat jedes Jahr um zehn Prozent erhöht. Und genau an diesem Ansatz wollen wir festhalten.

Genau dieses Verhalten brauchen wir beim heutigen Umgang mit großen Denkern wie Sayid Muḥammad Bāqir Aṣ-Ṣadr, der genau das präsentierte, was die islamische Gemeinschaft brauchte – möge Allāh ihn dafür mit dem Besten belohnen. Was aber die zweite und dritte Generation angeht und was uns heute angeht, den Neunzigern und den Zweitausendern und den Zweitausendzehnern und den Zweitausendzwanzigern … Wollen alle diese Generationen anhalten und sich ausschließlich mit Erklärungen und Kommentaren auseinandersetzen? Oder wollen sie vielmehr fortschreiten und den Weg weitergehen? Wenn sie stehenbleiben, dann handeln sie genau entgegen dem, was Sayid Aṣ-Ṣadr so sehr wollte. Hätte er selbst diesen Weg des Stillstands gewählt, wäre er wohl nie weiter gekommen als jene, die vor ihm waren.

Was er sich heute von uns wünschen würde, wäre ein Voranschreiten, durch ein Festhalten an seinem Weg. Allerdings nicht nur bis zu den Punkten, die er selbst erreicht hat. Denn wenn wir diesem Weg wirklich folgen und wenn wir diese Persönlichkeit wirklich zum Vorbild nehmen und bei ihr bleiben wollen, wenn wir bei den Ansätzen bleiben wollen, dann werden wir viel mehr und nochmal viel mehr erreichen können. So soll jede Generation das liefern, was sie zu liefern verpflichtet ist. Sie soll sachlich-kritisch mit der vorherigen Generationen umgehen und sie nicht als sakrosankt erklären. Genau so sollte der Dialog sein (und weiter gehen), den jeweils eine Generation nach der anderen zu führen hat, bis diese islamische Gemeinschaft eines Tages zu ihrem normalen Zustand zurückkehrt und zu den Stufen ihres Stolzes und ihrer Würde, so Allāh will, erhaben ist Er.

 

Autor: Scheich Haidar Hobbollah


[1] Hier im Sinne einer geistigen Belebung und Blüte des Aufschwungs und nicht die bekannte europäische Bewegung.

[2] n. H. für „nach der Hidschra“; die Hidschra gilt als Beginn der islamischen Zeitrechnung.

[3] Kalām, auch bekannt als theoretische Theologie oder scholastische Theologie, ist ein sehr weitgefasster Oberbegriff für eine Theologie im Islam, welche den Vernunftschluss (al-ʿaql) zulässt.

[4] »Fundamente des Rechts«, wird im islamischen Wissenschaftssystem als diejenige Disziplin angesehen, die sich mit den Quellen und methodischen Grundlagen der Normenfindung (fiqh) befasst.

[5] Der Konsensus der islamischen Rechtsgelehrten (iǧmā‘)

[6] Eine Disziplin der Islamwissenschaften, die sich mit den Tradenten der Überlieferungen befasst.

[7] Wissenschaft der Überlieferungen

[8] Al-Maṯnawī, drittes Buch, Abschnitt 3755

[9] Ein wichtiges, von Scheich Murtaḍā al-Anṣāriy (1781 – 1864) verfasstes, Lehrbuch, das noch bis heute in den islamischen Hochschulzentren (ḥawzāt) der Schiiten unterrichtet wird.

[10] Eine Methode innerhalb der Wissenschaft der Koranexegese.

[11] „Siehst Du“ bedeutet auf Arabisch: „A raʾayta“ – deshalb die Namensgebung der Araʾaytiyūn, sinngemäß der die „Siehst Du“-Sagenden.

[12] D. h., dass es bei Sayid Aṣ-Ṣadr nicht als »thematische Exegese« bezeichnet wird, sondern als »objektive Exegese«.

[13] Hier im sprachlichen Sinne zu verstehen und nicht als von Immanuel Kant wissenschaftlich-philosophisches Verfahren.

[14] Die historische Bezeichnung des südlichen Libanon bis zur Gründung des modernen Libanon im Jahre 1920.

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