1 – Der Hauptgedanke über den wir hier sprechen werden, betrifft die Vorstellung eines rationalen Bildes über eine der bedeutsamsten Schulen des Islam, und zwar die islamisch-schiitische Schule. Diese zeichnete sich im Laufe der Zeit durch die verschiedensten Prägungen aus, wie durch eine vernunftgemäße Prägung (bspw. Al-Murtaḍa und Al-Mufīd) über eine tradierende Prägung (As-Ṣadūq und Al-Maǧlisī), bis hin zu einer philosophisch-gnostischen Prägung (Mullah Ṣadrā und Aṭ-Ṭabaṭabā’ī).
Im Geflechte dieser Vielfalt wurden verschiedene Darbietungen über das Gebilde, den Vorstellungen und den Geist dieser Denkschule aufgeführt; jene Denkschule, die ihre Hauptgedanken vom Propheten (s) und den Imamen der Ahlulbayt (a) entnommen hat. Es war stets so, dass eine Gruppe von einer Methode der Vorstellung dieser Denkschule überzeugt war, wohingegen eine andere Gruppe diese als schädlich angesehen hat und der Ansicht war, dass sie unbedingt durch eine andere Methode substituiert werden müsse.
2 – In dieser Mitte trat eine neue Richtung in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts in Erscheinung, und zwar die Richtung der Annäherung (al-ittiǧāh at-taqrībī). In den Fünfziger- und Sechzigerjahren erreichte diese Strömung schließlich ihren Zenit und ging mit großem Bedauern in den Achtzigerjahren wieder zurück. In diesem Umfeld dominierte das Prinzip der universellen, rationalen Präsentation der imamitischen Denkschule. Dieses Prinzip, das wir hier weiter entwickeln wollen, basierte auf folgendes:
a) Die Präsentation der Konfession der Ahlulbayt (a) erst nach einer innerkritischen Betrachtung, wodurch diese Konfession von dem gereinigt werden soll, was ihr im Laufe der Zeit hinzugesetzt wurde. Dabei ist dies eine Verfahrensweise, die alle Religionen, Konfessionen oder gar Ideologien trifft. Es werden ihnen mit der Zeit menschliche Auffassungen zugeschrieben, welche sehr schnell als genuines religiöses Verständnis aufgenommen wird, obwohl dem in Wirklichkeit überhaupt nicht so ist. Ich führe hierfür ein Beispiel auf, das mit dem Erwarten der Rückkehr des Imam Al-Mahdi (a) zu tun hat. Dieses Erwarten hat hierbei eine Form der Stagnation angenommen, anstatt, dass es eine Form des Aufschwungs annimmt. Diese Art der Denkweise wurde aus überlappenden Gründen, die wir hier nicht ansprechen werden, als Basis dafür genommen, um die großen Aufschwungsprojekte, seien sie gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Natur, zu abandonnieren. Zugegen wurde als Vorwand aufgeführt, dass die Religion an die Unfehlbaren gebunden sei, so dass, falls kein Unfehlbarer präsent sein sollte, alles stillgelegt werden müsse. Und so wurden infolge dieses Verständnisses die vorhandenen Möglichkeiten dieser Konfession für einen qualitativ weiten Sprung nach vorne in einigen Zeiten behindert. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir große Persönlichkeiten – unter ihnen Imam Khomeini – gesehen haben, die eine innerkritische Betrachtung gefordert haben, um mit der (muslimischen) Weltgemeinschaft einen Aufschwung zu verwirklichen und sie von den stagnierenden Vorstellungen zu befreien.
Daher fordern wir von all jenen, die hinsichtlich der Angelegenheiten der Konfession der Ahlulbayt (a) Verantwortung tragen, sich stets dieser ruhigen, innerkritischen Ansicht zu widmen. Sie sollten keine Angst davor haben oder Sorge tragen. Wenn man diese Kritik selbst ausübt und lenkt, so sind die daraus resultierenden Gefahren kleiner, da man sie selbst kontrollieren kann, so dass weder an der einen Stelle über- noch an der anderen Stelle untertrieben wird.
b) Die Präsentation der Konfession der Ahlulbayt (a) gemäß rationalen Vorstellungen. Wir meinen mit rational aber nicht, dass die Wirksamkeit der gottesverehrenden Äußerungen sowie die tradierende Instanz annulliert werden, sie sollen vielmehr als Grundlage betrachtet werden. Wenn das geschehen ist, muss darauf hingearbeitet werden, dass die imamitische Denkschule als hierarchisierte, akkurate und harmonische Konfession präsentiert wird, fern von Missbildungen. Mit anderen Worten: Es soll ein vollständiges, rationales und übereinstimmendes Bild vorgestellt werden, welches eine gewisse Systematik aufweist, sodass der menschliche Verstand dieses annimmt und es nicht als der Logik konträr erachtet.
Um ein verdeutlichendes Beispiel zu geben, erwähne ich die philosophisch-gnostische Auslegung der Theorie der Führerschaft[1] (imāmah) bei der Schia, welche vor nicht allzu langer Zeit hervorgegangen ist. Abgesehen von der Genauigkeit dieser Auslegung, sehen wir, dass diese Theorie eine harmonische, vernunftgemäße Vorstellung der Führerschaft vorlegt. Dabei ist diese weitaus präziser und abgestimmter, als die Theorie der Kalām-Theologen, die unter einigen Lücken in ihrer inneren Einstimmigkeit leidet und der ein rationaler Einklang unter den verschiedenen Konstituenten der These fehlt. Ein weiteres Beispiel stellt die Ansicht der »Rechtswissenschaft der Theorie« (fiqh an-naẓariyah) dar, die Šahīd Mohammad Bāqir aṣ-Ṣadr zur Diskussion stellte, um die Rationalität der islamischen Rechtswissenschaft aufzuzeigen. Damit ist gemeint, dass die Rechtswissenschaft auf einer rationalen Grundlage gestützt ist und festgesetzte Ziele besitzt, sowie, dass Harmonie und Einklang unter ihren Konstituenten und Horizonten herrschen.
c) Es bleibt hierbei nicht nur bei einem rationalen Bild, durch das die Konfession präsentiert werden sollte, sondern es sollte auch entsprechend zeitgemäß sein. Es wird gefordert, dass die Konfession der Ahlulbayt (a) in einem gegenwartsnahen Bild dargestellt wird. Es sollte zum Zeitgeist passen, zu dessen Ereignissen, Erkenntnissen sowie Erscheinungen. Es soll nicht der Zeit ausgesetzt sein, sondern dafür sorgen, dass diese verbessert wird, aber nicht indem es die Zeit überspringt oder gar verleugnet.
Zur Forderung der Modernität zählt auch die zeitgemäße Sprache. Es muss eine Definition in einer Sprache sein, die die Jugendlichen an dieser genuinen islamischen Konfession lieben. Die schiitische Aufklärung benötigt heutzutage eine zeitgemäße Sprache und nicht nur heute, sondern stets.
d) Aus der Tiefe der Probleme der heutigen Zeit, steigt der Bedarf, dass die imamitische Denkweise mit einer Sprache des Dialogs und eines akzeptablen Pluralismus dargestellt wird. Es kann nicht sein, dass die Sprache der schiitischen Aufklärung heute eine Sprache des Konfliktes, der Ablehnung, der Ausgrenzung und der Verachtung ist. Die Denkschule der Ahlulbayt (a) ist heute womöglich so fähig wie in keiner vergangenen Zeit zuvor. Daher sollte keine Angst vor einem Kontakt mit dem Anderen und der Bildung von Brücken für ernsthafte Dialoge mit ihnen, bestehen. Aus diesem Grund glauben wir daran, dass das Schiitentum neben den anderen Konfessionen der Muslime vorgestellt werden sollte, ohne den Bedarf zu haben, diese abzuschaffen und so damit umzugehen, als gäbe es sie gar nicht.
Diese Angelegenheit schafft eine Kultur der wahrhaftigen Verbrüderung unter den Konfessionen und sorgt dafür, dass man über eine hemmungslose Verwerfung steht, die unterschiedliche Gestalten annimmt, wobei einige dabei unerträglich geworden sind. Durch diesen Weg ist es möglich, eine Anerkennung anderer Seiten zu erlangen, sowie ihre Liebe und Brüderlichkeit. Alle möglichen Hindernisse für eine aufrechte Beziehung müssen beseitigt werden, allerdings keine formelle Abschaffung, sondern tatsächlich wissenschaftlich, so dass die Konfession der Ahlulbayt (a) sich einen Weg in die Schauplätze des heutigen Lebens ebenen kann. Sie sollte nicht lediglich eine interne und private Darstellung genießen, die außerhalb ihres Schauplatzes nicht belebt werden kann, sondern dort wie ein fremder Körper wahrgenommen wird.
Die vier Rechtsschulen haben es geschafft, einen Schleier über eine Vergangenheit voller großer Streitigkeiten untereinander, zu legen. Und so sehen wir heute, wie sie über weite Strecken miteinander harmonisieren. Zumindest lehnen sie sich untereinander nicht gegenseitig ab und das sollte das Mindeste sein. Genau das ist es, was wir uns für die Konfession der Ahlulbayt (a) wünschen, und zwar, dass die Streitigkeiten ein Ende finden, sodass die Wissenschaften, die Sprache, sowie die Ansprache im Lichte eines neuen Abschnittes aufleben. Wer die Geschichte der vergangenen Fehden der vier Rechtsschulen liest, der glaubt nicht, dass diese Rechtsschulen es geschafft haben, vor allem nach dem achten Jahrhundert nach der Hidschra, über alle möglichen Konflikte, die vorhanden waren, hinweg zu sehen. Das ist zu Recht etwas Großartiges. Wir hegen die Hoffnung, dass es sich noch weiter ausweitet und die jaafaritische Rechtsschule miteingeschlossen wird, so dass die vermeintlichen Ängste vor dieser Rechtsschule vergehen und die Herzen miteinander harmonieren und interagieren.
Ist es nicht möglich, dass wir uns unterscheiden und jeder auf seine Meinung beharrt, ohne, dass wir in unseren Herzen Feindseligkeit gegeneinander hegen? Weshalb verflechtet sich die Art der Präsentation der imamitischen Denkschule mit dem Anblick der Selbstgeißelung und des Zornes gegenüber anderen und warum kann nicht zwischen den vergangenen und den heutigen Generationen – oder selbst unter den heutigen Generationen untereinander – differenziert werden?! Können wir nicht unsere eigenen Überzeugungen bewahren und Meinungsunterschiede mit anderen haben, ohne dass wir ihnen gegenüber Hass empfinden oder sie die Verantwortung vergangener Generationen tragen lassen usw.? … abgesehen von jenen, die Unrecht getan haben.
Aus diesem Grund besteht der Bedarf, dass die islamische Denkschule der Ahlulbayt (a) auf eine ruhige, ehrliche, rationale und zeitgemäße Art vorgestellt wird. Dabei muss Mut zur Selbstkritik herrschen, denn sie ist die höchste Tugend, und es muss einen ruhigen Dialog mit dem Anderen geben, ohne, dass er hasserfüllt ist. Ebenso sollten wir danach streben, dass wir ihm in diesem Dialog nicht sein Recht nehmen. Diese Form der Rede ist es, die einen Ersatz für einige andere Formen darstellen kann, welche innerhalb des islamischen Milieus die Oberhand und die Macht ergreifen soll, wie aggressive salafistische Strömungen, die großes Verlangen danach haben, allen anderen den Glauben abzusprechen.
3 – Das ist unsere Vorstellung von dem Dienst, welcher der Konfession der Ahlulbayt (a) geleistet werden kann und wir sind der Überzeugung, dass dieser Weg in unserem Zeitalter der bessere ist, zumindest, um der Religion und deren Anhängern einen Dienst zu erweisen. Dabei ist uns bekannt, dass es eine Gruppe gibt, die sich mit uns in dieser Angelegenheit vollständig unterscheidet. Wir respektieren ihre Sorgen und schätzen ihre Ängste. Sie sind zum Beispiel der Ansicht, dass Selbstkritik bedeutet, dass die ideelle schiitische Struktur dadurch zerpflückt wird und ihr Ansehen und Grundgerüst vernichtet wird. Daher existiert stets eine Angst und Skepsis gegenüber jeglicher Kritik, selbst wenn sie von einigen Problemen überzeugt sein sollten. Es wird dazu aufgerufen, diese Kritik aufzuschieben auf einen Zeitpunkt, über den wir nicht wissen, wann dieser eintreten wird.
Ebenso fürchten sie sich vor der Rationalität, weil diese – ihrer Ansicht nach – schrittweise das Konstrukt der verehrenden Instanz in der Religion (al-bināʾ at-taʿabbudī lid-dīn) angreift und sunnitische Methoden wie den Analogieschluss, das »für vorteilhaft Erachten« (istiṣlāḥ) usw. einführt. Ebenso lehnen sie die Modernität strikt ab und sind der Ansicht, dass es lediglich ein Slogan ist, um die Religion zum Schmelzen zu bringen unter dem Deckmantel der Bedürfnisse der Zeit usw.
Wir respektieren ihre Ängste und durchleben sie ebenso, wir können uns ihnen allerdings zur selben Zeit nicht ergeben, weil unsere Ansicht zu diesem Thema darauf basiert, dass, wenn wir uns diesen Ängsten aussetzen, die Religion in ferner Zukunft untergehen wird. Bei den Kirchen war es nicht anders, sie durchlebten dieselben Ängste und es wurden ähnliche neue Vorschläge in den Raum geworfen und sie wurden über Jahrhunderte hinweg ignoriert und sie blieb standhaft, bis sie plötzlich zusammenbrach. Am deutlichsten hat es Toynbee in seiner Darstellung der Kulturgeschichte aufgezeigt. Die Angelegenheit ist komplexer, als wir denken und das Nachdenken darüber ist wichtiger, als lediglich ein Problem in dieser oder jener Ortschaft zu lösen. Es benötigt kluge Köpfe, die die verschiedenen Aspekte dieser Angelegenheit betrachten und beachten, so dass wir zwischen den daraus resultierenden Vorteilen und Schäden abwägen können. So opfere das Wenige für den Vorteil des Vielen, auch dann, wenn dieses Viele erst nach einiger Zeit zu erreichen ist.
4- Aus diesem Grund existiert die Signifikanz einer Zeitschrift, wie die Zeitschrift „die Methodik“ (al-minhāǧ) in einer Zeit, in der die verschiedenen Strömungen unter den Konfessionen sich auf eine merkwürdige Art und Weise vermehren, so wie es uns Huntington in seinen Worten über die Ausdehnung der Strömungen im Nahen Osten ankündigte. Das was sich heute im Irak und im Libanon abspielt, ist ein Zeichen für großes Unheil. Die muslimischen Gelehrten im Osten und Westen der Erde müssen ihrer Verantwortungen diesbezüglich gerecht werden. Es geht nicht um formelle Treffen im Fernsehen. Wir respektieren diese, allerdings sehen wir darin keinen fulminanten Nutzen. Es muss vielmehr zielorientiert dafür gesorgt werden, dass die Erziehungs- und Bildungssysteme in den religiösen Einrichtungen, Instituten, theologischen Hochschulzentren (ḥawzah) sowie den islamischen Universitäten bei allen islamischen Gruppierungen neu strukturiert werden. Es ist nicht richtig, dass wir ein System für die religiöse Erziehung aufstellen, durch das nichts anderes erzeugt werden kann, außer Glaubensabsprechung (takfīr), Hass und gegenseitige Abneigung und dann, wenn Katastrophen eintreten, wir harmonische Sitzungen stattfinden lassen. Die Gelehrten müssen die Sorgen des Islam tragen und über konfessionelle Hassreden stehen, von denen niemand profitiert, außer der Andere.
Wenn der Andere all das durch seine Konspirationen hinbekommt, so müssen wir zugeben, dass dieser Andere unsere Schwachpunkte ausgenutzt hat. Dabei liegt der wichtigste Schwachpunkt in der konfessionellen hasserfüllten Spaltung.
Dies ist die Botschaft der Zeitschrift „die Methodik“, die inzwischen seit mehr als einem Jahrzehnt existiert. Darin zeigt sich ihre Rolle – und die Rolle ähnlicher Zeitschriften – bei der Verbreitung der Blüten des Austausches und des Kennenlernens, und dem Zuschütten des Abgrunds zwischen den sich für Allah liebenden Geschwistern, so dass wir alle unterbinden, dass die Salafisten in ihren verschiedensten Formen und Erscheinungen dabei erfolgreich sind, Spaltungen zu schaffen oder Zwietracht zu säen, und damit erhoffen wir uns ein Beispiel der göttlichen Worte zu sein:
„… und gedenket der Gnade, die Allah euch erwiesen hat, da ihr Feinde waret, und Er eure Herzen so zusammenschloss, dass ihr durch Seine Gnade Brüder wurdet …“ (3:103)
[1] Die »Führerschaft« (al-imāmah) ist ein Kernelement der imamitischen Denkschule und es handelt sich hierbei um die Führerschaft nach dem Ableben des Propheten Mohammad (s). (Anm. d. Ü.)