Religion und Atheismus – Zwei Ansätze, die zu zwei unterschiedlichen Menschen führen

Einleitung 

Wir sprechen ständig von dem Einfluss der Religion auf das Leben des Menschen (des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft insgesamt). Wir sprechen in dieser Hinsicht auch von der Rolle der Religion bei der Errichtung, der Unterstützung oder auch der Stärkung des moralischen Lebens. Ebenso sprechen wir von der Sättigung der eigenen, spirituellen, fremden Sehnsucht, die tief dem Menschen innewohnt. So kommt dann die Religion, um diese Sehnsucht zu stillen und diesem Ansatz beim Menschen Nahrung zu geben.

Ich möchte hier allerdings nicht über diese Themen sprechen. Was ich vielmehr möchte, ist lediglich ein äußerst einfacher Vergleich. Vermutlich wird dieser (Vergleich) uns allen zwar geläufig sein. Ich möchte ihn aber dennoch erwähnen, um zusammen zu erkennen, dass es hier zwei Arten von Menschen gibt, die zwar dieselben Dinge sehen, mit diesen aber gänzlich unterschiedlich umgehen: Ein religiöser Mensch (der irgendeiner himmlischen Religion folgt) und ein nichtreligiöser Mensch. Der Unterschied zwischen beiden verstärkt sich dabei entsprechend der Stärke ihrer Überzeugung und schließlich, entsprechend ihrer eigenen praktischen Interpretation dessen, an das sie glauben.

Um den Vergleich durchzuführen, möchte ich bei den folgenden Elementen beginnen. Die eine Überschrift ist die Religion, der gegenüber die Überschrift des Atheismus steht – der Abwesenheit also von Religiosität.

1. Die Welt zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen – zwei unterschiedliche Ansätze

Die Religion glaubt daran, dass dieser Welt ein Gott vorsteht, der über eine außerordentliche Kraft, eine Wissenshoheit und über die vollständige Kenntnis verfügt. So ist eben das, was wir sehen, nicht alles. Vielmehr gibt es hinter einem Vorhang eine heilige, hoheitliche und alles lenkende Kraft.

Der Atheismus hingegen leugnet dieses Verständnis und nimmt an, dass eben das, was wir in dieser Welt sehen und fühlen können, alles ist, was existiert. Und dass es außer diesen schönen Bildern nichts anderes mehr gibt, das im Verborgenen ist. Und selbst wenn es etwas gäbe, das verborgen wäre, dann erschiene es dennoch wie alles andere, was nicht verborgen ist – als Ergebnis des Fortschritts der Wissenschaft.

Der Gläubige erkennt, dass das Bild nicht nur aus dem besteht, was um mich herum in dieser Welt vorhanden (und sichtbar) ist – ganz gleich, wie fortgeschritten die Naturwissenschaften auch sind. Vielmehr gibt es noch einen verborgenen Teil, neben dem, den ich sehen kann – eben die verborgene Welt, die das göttliche Wesen auf höchste Weise widerspiegelt.

Der Gläubige geht sogar noch weiter, weil er fest daran glaubt, dass das, was um ihn herum geschieht, nicht mehr ist, als der oberflächliche Teil der Realität. Und dass der gewaltigere und größere Teil jener ist, der versteckt im Verborgenen liegt. Es ist jener Teil, der Überhand hat über den sichtbaren Teil. Die (sichtbare) Welt ist für ihn wie ein Eisberg inmitten der Tiefen des (riesigen) Ozeans. So gewaltig sein sichtbarer Teil auch über der Meeresoberfläche hervorscheinen mag, er bleibt immer noch viel kleiner als ein Viertel des Ganzen, das (ja hauptsächlich) in der Tiefe liegt.

An dieser Stelle entsteht der wahre Unterschied zwischen beiden Seiten – dem Gläubigen und dem Atheisten, der darin liegt, dass mein Urteil über irgendetwas, religiös betrachtet, voraussetzt, dass der verborgene Teil berücksichtigt wird. Andererseits wäre mein Urteil nicht wissenschaftlich und auch nicht korrekt, sondern vielmehr unvollständig. Der Atheist aber sieht grundsätzlich nichts Verborgenes – nicht mal Allah, den Erhabenen, selbst. Er tauscht das Suchen nach ihm aus gegen die Suche nach allem, was zum Materiellen führt und zum Sichtbaren dessen gehört, was um uns herum geschieht.

Beim Gläubigen, wenn wir den Vergleich einmal anstellen wollen, trennt sich die Welt des Verborgenen nicht von der des Materiellen. Es sind keine zwei Welten, die weit voneinander entfernt sind. Ihre gegenseitigen Nachrichten erreichen einander oder eine (sinngemäß) lange Schnur verbindet sie. Sie sind miteinander verzahnt und verflochten. Die eine Welt, und hier ist die verborgene gemeint – umgibt die andere. So hat alles, was materiell ist, auch immer etwas Verborgenes bei sich, das ich nicht sehen kann. Etwas, das das Andere umgibt und auch steuert. Die Gesetze dieser Welt existieren nicht einfach allein – wie Naturwissenschaftler annehmen. Vielmehr gibt es hier, neben den gültigen Gesetzen (der Natur) auch höhere Gesetze, die sich über eine Logik der Vorherrschaft präsentieren, die letztlich die verborgene Welt gegenüber der Welt der Natur auszeichnet. Dies ist eine Logik und ein Gesetz, das nicht von den Naturwissenschaften erfasst und auch nicht im Geringsten wahrgenommen wird.

Der Atheist hingegen leugnet alle diese Gedanken und sieht darin eine Art von Mutmaßung und Vermutung. Er führt ganz kategorisch an, dass er nichts Konkretes von all diesen Behauptungen auf dem Boden der Tatsachen finden kann.

Zusammengefasst: Die Religion sagt, dass unser Leben aus zweierlei besteht. Dem Sichtbaren einerseits und der Welt des Verborgenen andererseits, die wir mit unseren Sinnen nicht erfassen können. Und dennoch ist sie überall zugegen. Und was wir tun müssen, ist, uns dieser Welt zu widmen und ihr gegenüber nicht unachtsam zu sein.

Der Atheismus hingegen sieht in all dem nur eine reine Illusion und sagt, dass es nichts gibt, außer dem, was wirklich um uns herum vorhanden ist. Was wir sehen und fühlen und zudem wir uns wenden können. Alles andere besteht nur aus Trug und Gerede und Worte.

Der Religiöse erscheint wie einer, der in täglicher Verbindung zu zwei Welten steht: Einer fühlbaren und einer nicht fühlbaren Welt. Sein Leben ist eine Kombination aus zwei Verbindungen. Er betet, weil sein Gebet eine Verbindung zur anderen Welt und zu Gott schafft, aber dennoch isst er, weil das Essen eine Verbindung zu eben dieser (irdischen) Welt ist.

Der Atheismus wiederum kennt diese duale Verbindung nicht. Die einzige Verbindung ist die Verbindung zur (diesseitigen) Welt, zur Materie und zum Fühlbaren. Hier gibt es keine weiteren Arten der Verbindung. Vielmehr gibt es eine völlige Abwesenheit gegenüber allem anderem entsprechend dem Grundsatz.

2. Gibt es wirklich Zwecke oder vielmehr nur stille Gesetze?

Die Religion glaubt daran, dass es einen Zweck für die Schöpfung gibt. Die Schöpfung geht demnach im Voraus auf ein bestimmtes Ende zu und hinter diesem Ende stehen eine Philosophie und eine Weisheit und alles, was passiert, stammt von vorher durchdachter und sehr detailgenauer Planungen – gemäß eben ihrer Ziele. Das Entstehen einer bestimmten natürlichen Begebenheit hat also einen klaren Zweck, wobei all diesem eine Planung in einem metaphysisch verschlossenen Raum vorausging und von ihr gewollt wird, dass sie diesen Zweck erreicht. Das Sterben etwa von irgendwem, in welchem Alter auch immer, auf welche Weise auch immer, ist eine Angelegenheit, die längst bekannt war. Alle Zwecke dessen wurden bereits mit höchster Präzision festgelegt, an welchem Ort auch immer in dieser Welt.

Der Gedanke zur Schöpfung in der Zweckmäßigkeit (al-hādafiyah) – ganz gleich, ob bei einer detaillierten Einzelbetrachtung oder allgemein auf alle bezogen, was auch die Auferstehung und das Jenseits ausdrücken – ist ein wesentlicher Gedanke im religiösen Verständnis und im Bewusstsein der Gläubigen. Die Dinge geschehen somit nicht einfach so. Genauso wenig sind wir auf eine solche Weise in das Leben gekommen. Jede Bewegung unseres Lebens, hinauf und hinab, nach rechts und nach links, alles das ist kein vorbeiziehender Zufall, sondern vielmehr ein geleitetes Schema – eine Leitung höchster Perfektion – das klare Zwecke für die gesamte Schöpfung beinhaltet. Und diese Zwecke sind wegen dieser allmächtigen, hohen Macht, die die gesamte Welt führt, zweifelsohne von majestätischer Natur.

Der Atheismus hingegen glaubt nicht an die Notwendigkeit dieses Ansatzes der Zwecke. Er sagt vielmehr, dass alles das, was geschieht, nicht mehr ist als ein Automatismus. Er geschieht, ohne dass vorher etwas davon geplant wurde. Der Ausführende handelt nicht nach einem Zweck, der dahinter der wahre Grund des Ganzen ist. Vielmehr handelt es sich (dem Atheismus nach) um Geschehnisse dieser Welt, die auf eben diese spontane Weise passieren. Dies aufgrund ihres formgebenden Systems und nicht aufgrund (vorher) definierter Zwecke.

So erkennen wir also einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Gläubigen und dem Atheisten.

Zum einen aus der Sicht der Wirkursache[1] (al-ʿillah al-fāʿiliyah): So erkennt der Gläubige, dass der Wirkende in dieser Welt das Verborgene ist – und dieses Verborgene ist Allāh, während der Atheist eben nicht daran glaubt.

Zum anderen aus der Sicht der Zweckursache[2] (al-ʿillah al-ġāʾiyah): So erkennt der Gläubige, dass die Wirkursache ihre Tat ausgeführt hat und dies auch immer tut. Dies aber vom Ausgangspunkt eines vorher durchdachten Zweckes und Ziels. Der Atheist hingegen ist der Ansicht, dass das Wirkende – aus seiner Sicht die Natur – eine Handlung ohne Zweck durchführt, ja vielmehr ein gewisser Automatismus, eine Handlung auf irgendeine Weise nach sich zieht. So gibt es (für ihn) also hinter den materiellen Wirkursachen keinen Sinn und die Natur plant damit auch keinesfalls aufgrund irgendwelcher Gründe.

Wenn zwischen beiden ein Konflikt herrscht, also zwischen dem Gläubigen und dem Atheisten, dann würde der Blickwinkel der Wirkursache im Vordergrund stehen. Wäre bei diesem Konflikt die Zweckursache im Vordergrund, würde das Gespräch zu einem allgemein psychologischen Thema werden.

Die Annahme, dass es Zwecke gibt, bedeutet, dass es einen großen Verstand gibt, der einen klareren Blick hat und für alles entsprechend plant. Genau diese Annahme erklärt – unter Beachtung von allem, was mit mir irgendwo geschieht – einen Teil eines vorher geebneten Weges. Diese Angelegenheit ist auf der Ebene ihrer psychologischen Auswirkungen alles andere als unbedeutend. Wenn Du in einem Wald spazieren gehst, führen Deine Füße Dich offensichtlich zufällig und spontan einen Weg entlang. Wenn Du aber dort bist, und dabei davon überzeugt bist, dass die gesamte Strecke, die Dir zufällig erscheint, einen klaren Zweck und ein klares Ziel hat – und dass all dies schon vorher geplant wurde – dann ist das etwas anderes. Die Verwirrung der zweiten Situation ist eine sehr aktuelle, aber dennoch entspringt sie einem endgültigen (klaren) Bewusstsein. Die Verwirrung der ersten Situation hingegen ist eine Verzweiflung, die den Beginn und den Werdegang betrifft, ebenso wie sie auch Einsamkeit und Merkwürdigkeit zeigt.

3. Der Dualismus der Welt (das Diesseits und das Jenseits) und ein anderer unterschiedlicher Raum

Die Religion sagt, dass das diesseitige Leben nur wie eine Durchfahrt und wie ein Trugbild ist, im Gegensatz zum Jenseits, das der »Wohnsitz« ist. Der Atheismus hingegen sieht in der diesseitigen Welt unseren (einzigen) Weg, unseren (einzigen) Aufenthalt und letztlich auch unser aller Ende, ohne dass danach irgendetwas anderes folgt.

Der Gläubige sucht nach den Früchten seiner Handlungen im Jenseits, während andere die Früchte ihres Handelns direkt hier im Diesseits suchen.

Die Religion betrachtet das Geschehen auf dieser Welt als einen Teil einer langen Reise zu einem ganz bestimmten Ziel. Der Atheismus hingegen hält die diesseitige Welt für alles – es gibt keine Auferstehung und keine andere Welt, die hinter dieser steht. Genau dieser Umstand führt zu einer entsprechenden Reaktion beim Umgang mit den weltlichen Geschehnissen. Schicksalsschläge etwa oder Krisen sind für den Gläubigen nur befristete Herausforderungen, während sie für den Atheisten endgültig sind. Aufgrund dessen bleibt ihm nur, all seine Angelegenheiten im Rahmen des diesseitigen Lebens zu betrachten, um realistisch zu bleiben.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Menschen ist gewaltig. Wie auch nicht, wenn der eine alles, was in diesem Leben geschieht, für eben alles in seinem Leben hält – weil diese Welt ja sein ganzes (einziges) Leben ist? Wenn er fünfzig Jahre lebt und darunter vierzig waren, die dunkel und hart und verirrt waren, dann heißt das für ihn: Vierfünftel meines Lebens sind sinnlos verstrichen – ein schwerwiegendes Gefühl. Der andere hingegen geht alle Angelegenheiten völlig anders an. Zu allererst wägt er im Hinblick auf sein Ziel zwischen diesem Diesseits ab, das endlich ist und dem Jenseits, das weitreichend (und dauerhaft) ist – unabhängig davon, wie wir die Ewigkeit darin definieren wollen. Und während er so denkt, erlebt er diese (diesseitige) Welt – im Hinblick auf sein gesamtes Dasein – wie (das Verhältnis aus) eins zu einer Million. Und dies, weil das (hiesige) Leben für ihn nicht dieses ist, vielmehr ist sie nur wie „ein Tag oder ein Teil eines Tages“. Wenn dieser dasselbe erlebt, wie der erstgenannte Mensch, dann wird das Ergebnis der Wahrnehmung seiner Angelegenheiten völlig anders sein. Diese vierzig schweren Jahre, die er dann erlebt hätte, hätten eben für für ihn nicht mehr Gewicht als wie eins zu einer Million. Seine Hoffnungen und Interpretationen der Dinge können unterschiedlicher gar nicht sein, weil sein wahres Leben für ihn noch gar nicht angefangen hat. Genau das ist es, was entsprechend gewaltige Spuren in seinem Geist, seiner Seele und seinem Bewusstsein hinterlässt.

Was mich am meisten beim Vergleich dieser beiden Ansichten beschäftigt, ist die religiöse Betrachtung der Welt als Durchgang, als eine Schule und als ein Haus des Übens und der Prüfung. Dieses Verständnis erscheint mir alles andere als gering, besonders dann natürlich, wenn es sich fest im menschlichen Wesen verinnerlicht und zu einem dauerhaften Gefühl wird. Für mich ist damit nichts mehr, dem ich begegne, das „Ende der Dinge“, nichts mehr ist „alles“, nichts mehr ist „finale Lage“. Vielmehr ist es das Embryonalstadium, innerhalb dessen Lichte ich die Art meines wahren Lebens erkenne. Soll ich versuchen, mir Wissen anzueignen, um etwa ein Arzt zu werden, um dann – angenommen – ein schönes Leben zu führen? Oder soll ich mich in Chaos stürzen und gesuchter, geflüchteter, ausgestoßener Dieb werden? Die Phase vom zehnten bis zum dreißigsten Lebensjahr ist – im Vergleich zu dem, was danach (im Jenseits) kommt – religiös betrachtet, die weltliche Phase. Jeder Druck und jede Angst, jede Sorge, jede Mühe und jede Erschöpfung und alles Negative, das ich in dieser Phase erlebe, all das wird logisch, wenn ich es für das Erbauen meiner Nachwelt nutze. Genauso logisch erscheint all das, wenn ich es für das Erbauen meiner Zukunft einbringe, wie wir heute sagen.

Das Thema ist aufregend. Genau das ist der Grund, warum der Gläubige dazu übergeht, die Welt als Prüfung und Heimsuchung zu anzuerkennen. Er sieht es deshalb als ganz normal an, in dieser auch zu leiden. Auch der Arzt wird nicht einfach Arzt, ohne vorher zu leiden, ohne zu ertragen und ohne Schlafverzicht. Für ihn ist es natürlich, dass es Schwierigkeiten gibt. All diese Probleme und Schmerzen sind keine Dunkelheit, vor der er zu fliehen versucht oder gegen die er sich stellen will. Eben deshalb, weil er sich nicht gegen diese Erschwernis wendet, die ihn auf seinem Weg des wissenschaftlichen Studiums weiterbringt. Dies natürlich aufgrund seines Verständnisses für diesen Weg und der Regeln und Ergebnisse dieses Weges. Die diesseitige Welt ist für den Gläubigen wie eine Ausbildungsstätte. Das Erreichen der glückbringenden Ziele kann nicht erfolgen, als bis man diese Ausbildung wirklich (durchlebt und) durchläuft.

Die Religion bewertet also weder eine gute Tat noch eine schlechte Handlung noch den Erfolg oder das Versagen gleich welcher Tat, aus weltlicher Sicht allein. Vielmehr betrachtet sie die Welt als Teil eines langen Weges zum eigentlichen (wahren) Leben. Die Religion schaut also auf die Wirkung, die eine Handlung auf diesen langen Weg zum wahren Leben hat – und dies betrifft das diesseitige und das jenseitige Leben gleichermaßen. Der Atheismus wiederum konzentriert sich auf die Ergebnisse innerhalb der Stufe des weltlichen Lebens (allein), weil es hier ja keine andere zeitliche Stufe gibt, innerhalb derer man die Ergebnisse erhalten könnte.

Dieser Unterschied führt zu einem weiteren, sehr wesentlichen Unterschied bei der Rolle der Religion selbst. Die Religion sieht ihre eigene Rolle in erster Linie darin, das jenseitige Leben aufzubauen. Der Atheismus erwartet von Religion allerdings, dass ihre Rolle das Errichten des diesseitigen Lebens ist. Wenn nun irgendeine andere Methode erscheint, die das diesseitige Leben aufzubauen vermag, dann würde dieser gegenüber der Religion der Vorzug gegeben.

4. Konzepte der Konfrontation mit der überwältigenden Natur

Die Religion erschafft im menschlichen Verstand und in seinem Gewissen eine Menge von Konzepten, mit der der Mensch dieser Welt begegnet. Die Religion beginnt beim Behandeln der Themen bei ihren Ursprüngen.

Zu diesen gehört: das Konzept der Heimsuchung. Ein religiöses Verständnis, durch die der Gläubige eine Vielzahl seiner Probleme versteht, mit denen er sich konfrontiert sieht. Probleme erscheinen für ihn dann nachvollziehbar und manchmal führen sie sogar zur Glückseligkeit. Am Ende ist dies vermutlich das Ergebnis eben dieses Verständnisses.

Zu diesen gehört weiter: das Konzept der raschen Bestrafung. So erkennt der Mensch, dass einige seiner Schicksalsschläge und Schmerzen eine verborgene Bestrafung für das sind, was er an Sünden begangen hat. So ist sie schließlich auch eine Art der Reinigung.

Im Lichte dieser Ansätze entsteht beim Gläubigen die Fähigkeit, all das zu ertragen, und damit einhergehend auch die nötige Geduld.

Der Atheismus wiederum blickt auf diese Angelegenheiten, als würden sie aus Unwissenheit und Aberglauben resultieren. Der Atheismus erwartet, dass wir realistisch sind. Aber nichts davon ist vorhanden. Vielmehr sind diese Welt und ihre Unstimmigkeiten alles, was wirklich vorhanden ist und sie führen ausnahmslos zu Krisen und Problemen. Das Erdbeben kennt weder Gläubige noch Nichtgläubige und es denkt auch nicht darüber nach, wo es eintrifft. Die Lösung ist dann, dass wir eben realistisch sind und akzeptieren, was geschieht, da diese Angelegenheiten – ob wir wollen oder nicht – meist nicht in unserer Hand liegen.

An dieser Stelle priorisiert die Religion ihre Ansätze für das Verständnis der umgebenden Umstände vor dem Ansatz des Verständnisses des Atheismus. Diesmal nicht aus philosophischer oder kognitiver Sicht, sondern vielmehr aus psychologischer und gesellschaftlicher Sicht. Diese Ansätze, die die Religion im menschlichen Bewusstsein sät, gewähren dem Menschen nicht nur ein Gefühl dafür, was um ihn herum geschieht – ihre Vorteile sind vielmehr, dass sie manchmal auch ein Gefühl für seelisches und geistiges Glück gewährt. Wenn der Mensch Reinigung erfährt, die durch eine Krankheit kommt, die ihn getroffen hat, dann verändert sich dieses Unglück hier in einen Gewinn. Krisen, Probleme und jeglicher Druck werden zu glückbringender Chance, weil sie, aus der Sicht des Gläubigen, wie Prüfungen erscheinen, die den Menschen zum Glück führen können. So bewegt er sich mit ihnen also in Richtung des Erfolgs. Ähnlich ist es (sinnbildlich) auch mit einer Universität, die ihre Pforten öffnet und in der für die Studierenden Zugangsprüfungen bereitliegen – diese Prüfungen sind eine Tür, die für die Studierenden geöffnet wurde. Durch sie können sie zu ihren Reihen und Hallen dazustoßen – durch das Bestehen eben genau dieser Prüfung.

Je mehr der gläubige Mensch in diese Richtung geht, desto mehr und mehr wird ihm an Kraft gegeben, um den Erschwernissen des Lebens mit einem noch stärkeren Ich zu begegnen. Einem, das über das Verständnis dessen hinaus geht, was in der Umgebung geschieht, hin zu einer tiefen Zufriedenheit. Der Schmerz fühlt sich für ihn am Ende wie Glück und Erholung an. Auf diesem Weg schaut der Gläubige auf die Schöpfung Allāhs nicht mehr so, als wäre sie eine Katastrophe.

Viele der Menschen, die unter körperlichen, materiellen oder finanziellen Problem leiden, glauben, dass Allāh sie in eine ausweglose Lage gebracht hat, die er mit ihnen gar nicht besprochen hat. Genau dies ist die Meinung der Lehre des Kynismus, die wir im westlichen Bereich auch bei Spinoza gesehen haben, ebenso wie auch aus östlicher Richtung bei Abū al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī. Er erwartete, dass Allāh uns doch fragen müsse, bevor er uns erschafft. Oder dass er doch zumindest berücksichtigen müsse, wie unsere Sicht denn wäre, wenn wir unter solchen Umständen erschaffen würden. Und wenn er uns nicht nach unserer Meinung in Bezug auf die Schöpfung fragt, dann nimmt die Angelegenheit (der Ansicht al-Maʿarrīs nach) eine negative Richtung ein.

Der gläubig-religiöse Verstand hingegen sieht die Dinge nicht auf diese Weise – entsprechend auch dem, was wir bereits im dritten Punkt zur Dualität des Diesseits und des Jenseits angeführt haben. Er sieht vielmehr, dass Allāh uns durch seine Schöpfung (unserer selbst) eine historische Chance gewährt. Er selbst sagt: „Ich habe euch durch eure Erschaffung meine Milde offenbart“. Und mit ihr ermögliche ich euch die Chance, in die ewige Glückseligkeit einzutreten. Alles was von euch verlangt wird, ist der Durchlauf einer, zeitlich betrachtet, einfachen Prüfung, die auch als erste Welt oder Diesseits bezeichnet wird. Der Gläubige sieht in diesem Handeln Gottes Großzügigkeit, dass allen Menschen die Möglichkeit zur ewigen Glückseligkeit ermöglicht wurde und durch das Hinabstürzen der betroffenen Menschen in die Feuerhölle erkennt er als Fehler, die von ihnen selbst kommen. Aus seiner Sicht schienen sie nicht in der Lage zu sein, sich selbst kleinen, zeitlich endlichen Prüfungen zu unterziehen. Und das ist die Bedeutung dessen, worauf auch der edle Koran (mit folgenden Worten) aufmerksam macht: Der Mensch ist „sehr oft ungerecht und sehr oft töricht“. Der Mensch hat sich selbst Unrecht zugefügt, weil er eine historische Chance, die vor ihm lag, verstreichen ließ. Er versank in Sinnlosem und Ignoranz, als er seine Sicht hinter der Welt verbarg – und das Jenseits vergaß.

Die beiden Ansichten an dieser Stelle sind – entsprechend der (jeweiligen) Philosophie des menschlichen Seins und der Legitimität der Erschaffungre des Menschen – eminent unterschiedlich. Während die eine Ansicht im Erschaffen des Menschen durch Allāh einen Fehler und einen Eingriff in die Rechte desselben sieht, sieht die andere Ansicht darin eine Gabe, eine Chance und eine Großzügigkeit. Der erfolglose Mensch will seinen Misserfolg Allāh zuschreiben und bezichtigt ihn einer Verschuldung (und einer Fehltat), statt sich diese selbst zuzuschreiben.

Die Religion sagt, dass diese Ansätze, die sie im menschlichen Geist tief verankert hat, in der Lage sind, die „Programmierung“ des Menschen wieder auf das, was um ihn herum geschieht, auszurichten. So ist es nicht nur wichtig, dass Du das, was um Dich herum geschieht, wissenschaftlich begreifst, vielmehr ist es wichtig, Dein Handeln in dieser Umgebung besser zu machen.

5. Der Zufluchtsort zwischen der göttlichen Barmherzigkeit und der Stille der erzürnten Natur

Der religiöse Glaube hat den Standpunkt, dass wir, wenn wir den Glauben an den „großen und verborgenen Verstand“ – also an Allāh – aufgeben, eben den, der sich selbst alle Sinne, alles Wissen, alle Fähigkeit, alle Weisheit und das wahre Verständnis und den wahren Zweck (und so weiter) zuschreibt, dann verlieren wir (alles). Wir verlieren das Gefühl, das uns ermöglicht, zu verstehen, wer der Gnadenreiche, der Allvergebende, der Liebende und der Milde ist. Die Natur kann nicht verstehen, nicht erkennen und auch nicht fühlen, während Allāh die Angelegenheiten sehr wohl kennt, sie ihm bewusst sind und er Ziele hat. So ist es möglich, dass der Mensch durch die Atmosphäre des Wortes Allāh seelisch und geistig Schutz findet – auf eine Art, die nicht von dieser Welt ist und ihm Barmherzigkeit, Erlösung und Hoffnung schenkt. Sobald ich mich von der Welt der stillen, verstandlosen Natur zu einer verborgenen, verstandesbegabten Welt erhebe, fühle ich (wieder). Es ist, als wäre ich mit einem anderen, großen Menschen zusammen, der im Besitz seines Verstands und seiner Seele, seines Benehmens und seines Bewusstseins ist. Die Ziele sind eine Angelegenheit des Verstands, die der Mensch durch seine Erfahrungen begreift. Und wenn ich diesen Großen, Verborgenen fühle, dann kann es sozusagen sein, dass ich auch das Vorhandensein von Barmherzigkeit, Liebe und Mitgefühl spüre.

Vielleicht ist dieser Kontext genau das, worauf die gottesnahen Philosophen anspielen, wenn sie über ihre Beweise der natürlichen Veranlagung (fiṭrah) sprechen. Wenn der Mensch in eine gefährliche und kritische Situation gerät, wie etwa auf einem Schiff, dem inmitten des turbulenten Ozeans die Vernichtung droht, dann wendet sich der Mensch in seiner natürlichen Veranlagung offensichtlich (immer wieder) an eine höhere Macht, die hört und fühlt und sieht. Eine, die auch ein Gefühl für Barmherzigkeit, Vergebung und Liebe hat. So hält er an ihr fest, auf dass sie ihn errettet. Er hält dabei nicht an irgendetwas fest, was zu einer niedrigen Überlebenswahrscheinlichkeit führt, wie die Philosophen ja auch sagen, sondern vielmehr an einer Kraft, die über dem Normalen ist und über dem Möglichen, die in der Lage ist, in seine Errettung einzugreifen. Und warum? Weil sie die Bittgebete und die Rufe erhört. Und weil sie vergibt und versöhnt und barmherzig ist. Und so kommt es zur Errettung. Nicht aber, wegen der möglichen Wahrscheinlichkeit von eins zu eintausend, dass der Ozean sich wieder beruhigt. Sondern deshalb, weil er an eben dieser Kraft festhält, die er in seinem Inneren spürt und die in der Lage ist, einen Ausweg zu seiner Errettung zu ermöglichen – selbst dann, wenn der Ozean sich nicht beruhigt.

Allāh ist also jener Zufluchtsort. In der religiösen Kultur ist er der Angebetete, den man in allen Angelegenheiten bittet. Niemand anderen außer ihm. Und der Glaube an den einen Gott (at-tawḥīd) ist die richtige Art der Verbindung zu eben dieser großen Kraft, die wir Allāh nennen.

Der Atheismus wiederum beschäftigt sich nicht mit all diesen seelischen Ansätzen, die (beim Menschen) Hoffnung und Errettung erbauen (und ermöglichen), die Fürsorge und Güte und Mitgefühl fühlen lassen, die von einer höheren Kraft kommen. Aus religiöser Sicht sind all dies entsprechend wertvolle Empfindungen. Der Atheismus sagt, dass es nichts gibt außer dieser materiellen Realität, mit der wir uns zwar auseinandersetzen sollen – aber mit nichts anderem sonst. Und Deine Hoffnung sollst Du aufbauen auf (ausschließlich) diese vorhandene Realität.

6. Die Religion und der Atheismus – und der Austausch gegenseitiger Vorwürfe

Der Atheismus sagt, dass religiöse Glaubensrichtungen in einer schwierigen Situation sind und dass sie diese Schwere auch selbst spüren.

Der Atheismus sagt, dass er schwer zu ertragen ist für die religiösen Konzepte. Und die Religion spürt sein Gewicht. Würde sie aber (den Atheismus) annehmen und den Schmerz zulassen, dann würde dieser auch schnell wieder vergehen. Dies deshalb, weil sie die Dinge dann realistisch und logisch sehen würde. Und der Grund für ihren Schmerz ist ohnehin nur, dass sie sich an die Sucht der religiösen Mythen gewöhnt hat. Das Loslösen von einem solchen (Sucht-) Zustand ist immer mit Schmerzen verbunden, die aber nur am Anfang vorkommen.

Die Religion hingegen sagt, dass die Sicht des Atheismus auf sich selbst alles andere als realitätsnah ist, weil seine Sicht zerstückelt, vermindert und unvollständig ist. Vielmehr ist sein Menschenbild gar nicht intakt. Dies deshalb, weil der Mensch ein (natürliches) Bedürfnis danach hat, seine verborgenen Gefühle zu stillen – egal erst mal, ob mit etwas Wahrem oder etwas Falschem. Jede Realität (oder vielmehr dem, was man selbst unter Realität versteht), die diese angeborene, verborgene Neigung beim Menschen ignoriert, wird ihn am Ende betäuben (und seiner Sinne berauben). Für eine endliche Zeit allerdings nur – alsbald wird er dann aufwachen und großen Schmerz verspüren, die für ihn in Alleinsein, Einsamkeit und Sehnsucht resultieren. Darauf folgt vielleicht sogar der Suizid, wie in unserer heutigen Zeit ja (leider) bekannt.

Diese betäubende Wirkung beschränkt sich nicht auf die Religion. Die Religion sieht vielmehr an, dass der Atheismus es ist, der die Menschen betäubt – durch die (Anziehungs-) Kraft der Gelüste, der Medien und der Illusionen – in dem einige der angeborenen Sehnsüchte (des Menschen) für eine gewisse Zeit durcheinandergebracht werden. Alsbald werden sich die Dinge aber dann ändern. Und die Menschen werden zurückkehren zu diesen angeborenen Sehnsüchten und an dem festhalten, was hinter dieser (sichtbaren) Welt ist. Der Atheismus hat es nicht geschafft, die Religion zu verdrängen – trotz all der jahrhundertelangen Bemühungen auf dieser Welt. Und er wird es auch nie. Und wenn es hier oder da mal doch gelingt, dann handelt es nur sich um kurzzeitige Ansätze. Der Atheismus kann hier nie eine Kontinuität schaffen. Was dies deutlich bestätigt, ist, dass all die materiellen und pragmatischen Trends des 20. Jahrhunderts nun dazu führen, auch die Religion als eines der möglichen Heilungswege für psychische Erkrankungen zu sehen, die das moderne Zeitalter heute (auch dringend) braucht.

7. Das Absolute zwischen Menschlichkeit und Göttlichkeit

Die Religion ist der Meinung, dass das Absolute oder was dem Absoluten ähnlich ist, davon auch ein Zustand der Menschen ist und nicht nur göttlich allein. Allerdings im Rahmen der Grenzen des Menschen. Wir nennen sie: Die Gesandten und die Gottesnahen. Ihre Absolutheit zeigt sich darin, dass sie die Vorbilder und die Verbindung zu Allāh selbst sind, der ja der wahre Absolute ist. Und darin, dass sie das beste Beispiel des Menschen sind, eins, dass die Religionen im menschlichen Verstand tief verankert haben.

Im Atheismus gibt es nur einige Gruppen von Menschen, die gewisse besondere Punkte in ihrer Zeit erreicht haben, durch die sie wiederum in die Reihen ihrer Besten aufgenommen wurden. Das ist alles. Ohne allerdings die Stufe des Besonderen tatsächlich erreicht zu haben. Oder dass sie gegenüber anderen einen Vorrang hätten.

Und weil es einen Absoluten gibt, der höher ist, als der Mensch, ist die Religion der Auffassung, dass der Verstand beschränkt ist. Und dass dieser deshalb den Worten der Offenbarung zuhören muss, die diesem begrenzten Verstand entgegenkommen. Wir nennen diesen Absoluten Allāh. Aus diesem Grund glaubt die Religion, dass es nicht logisch ist, uns gegen Allāh zu stellen, während wir ja mit unserem begrenzten Verstand nicht in der Lage sind, die noblen Ziele Allāhs in seinen Handlungen zu begreifen. Wir tun so, als würden wir alles verstehen, wenn wir (demonstrativ) fragen, warum er Menschen durch Erdbeben und Vulkanausbrüche und ähnlichem das Leben nimmt. Und (wenn wir) nach dem Grund seines Entsendens all dieser üblen Menschen auf dieser Welt (fragen). Unser Einwand ist einfach abzulehnen. Nicht deshalb, weil die Religion die Rechte kürzt oder weil Allāh tyrannisiert. Sondern weil die Logik dieser Angelegenheit dies in der Tat so erfordert. Der menschliche Verstand ist eingeschränkt. So viele Dinge wurden abgelehnt und nach Jahrhunderten kamen die verborgenen Hintergründe ans Tageslicht. Während er also begrenzt ist, Allāh selbst aber nicht, ist es nur logisch, nicht einfach zu sagen, „ich lehne dieses göttliche Verhalten ab“. Vielmehr sollte es doch heißen: „Ich verstehe das nicht im Detail“. Mein Verstand ist begrenzt und ich bin infolgedessen nicht in der Lage, das zu begreifen.

Der Atheismus ist der Ansicht, dass all dies nur Gerede ist. Wir selbst haben nicht mehr als unseren begrenzten Verstand. Und wir müssen uns auf diesen ganz allein verlassen, solange er das einzig verfügbare Element ist, um unsere Angelegenheiten zu verwalten. Jedes andere Wort ist nur dahergesagt und verbale Spielerei.

8. Zwischen der Zentralität Allāhs und der Schlüsselrolle des Menschen

Bei allem, was wir zuvor bereits erwähnt haben, zeigt sich, dass Allāh die zentrale Rolle in allen religiösen Modellen ist. Allāh ist die (treibende) Achse. Er ist die Basis und der Ursprung. Und wir drehen uns (lediglich) um seine Kaaba[3]. Alles geschieht durch seinen Willen. Und demnach gehört es sich, sich ihm hinzugeben. Diese Hingabe ist alles andere als ignorant. Vielmehr ist es die Erkenntnis, dass wir selbst ignorant und beschränkt sind. Das Wissen über unseren Zustand ist deshalb wie ein Licht und keinesfalls eine Dunkelheit.

Der Atheismus hingegen sieht den Menschen im zentralen Mittelpunkt. (Entweder der Einzelne, wie im Liberalismus oder die ganze Gesellschaft, wie im materialistischen Marxismus.) Der Mensch ist der Ursprung. Alle Gesetze, alle Gedanken, alle Programme und Projekte müssen sich um seine eigene Kaaba herum drehen – und ihm zu Diensten sein.

Diese essentielle Differenzierung in der Angelegenheit der Zentralität (von Allāh und vom Menschen) gehört zu den wesentlichen Unterschieden, die in unserer modernen Zeit in Konflikten und Streitgesprächen aufkommen. Selbst viele Gläubige betrachten die Dinge heute aus der Sicht der Zentralität des Menschen und nicht aus der Zentralität Allāhs.

Mit Blick auf die Wichtigkeit dieser Angelegenheit, möchte ich auf die Ašʿarīyah[4] Richtung verweisen, die der Auffassung ist, dass die Gesetze und Gesetzgebungen keinerlei reellen Nutzen für den Menschen haben müssen. Selbst wenn sie etwas enthalten würden, was aus unserer Sicht schädlich ist, wären sie dennoch gut. Dies deshalb, weil der Wert eines Gesetzes nicht in seinem Inhalt an sich liegt, sondern in seiner Verbindlichkeit gegenüber Allāh, dem Erhabenen.

Ich möchte diesen Ansatz nicht unterstützen, um den herum im islamischen Erbe sehr viel argumentiert wurde – insbesondere im Rahmen des rationalen, wesentlichen Gutheißens und nicht Gutheißens (at-taḥsīn wa at-taqbīḥ al-ʿaqliyaīn wa aḏ-ḏātiyaīn). Worauf ich aufmerksam machen möchte, ist die Neigung des religiösen Verstands zur göttlichen Zentralität. Was immer Allāh zum Gesetz ernennt, ist immer gut. Er macht nur Gutes zum Gesetz.

Der Ansatz der Zentralität des Menschen, der in allen Einrichtungen des Denkens bekannt ist, selbst auch in der Mitte der religiösen Wissenschaft, hat eine große konzeptionelle Verschiebung stattgefunden. Alles ist also dem Menschen zu Diensten. Gut, das ist nicht schlimm, aber was genau bedeutet denn „Dienst für den Menschen“ und für „seinen Nutzen“?

Für den Menschen zu Diensten sein bedeutet, ihm Nutzen zu bringen. Was wir aber heute in der Welt erleben ist, dass der Dienst am Menschen bedeutet, dass er Komfort erlebt und empfindet sich in Glückseligkeit zu befinden. So ist daraus ein Ansatz geworden, der sich um den Komfort des Menschen und sein Glückempfinden dreht. Wie aber bekannt ist, ist das nicht die wahre Bedeutung des Nutzens. So kann es sein, dass der Nutzen im Schmerz liegt oder auch nicht. Wenn also der Gedanke der Zentralität des Menschen nicht mehr nur das Gute und den Nutzen im Vordergrund sieht, sondern genauer den Komfort, den Schutz, die Stabilität und den Genuss von Glück und Schönheit, dann handelt es sich um eine sehr große Verschiebung. Der religiöse Streitpunkt also ist, dass nicht der Nutzen des Menschen im Vordergrund steht. Die Religion sagt vielmehr, dass der Nutzen des Menschen immer durch die Religion definiert wird – die ja die Gegenwart und auch das Jenseits gleichermaßen berücksichtigt. Egal, ob sich die Religion irrt oder nicht. Der Nutzen für den Menschen kommt allein dadurch, dass Allāh im Zentrum von allem ist. Der Nutzen des Menschen verändert sich aber dahin, dass es nur noch um seinen Komfort, seinen Schutz und seine Stabilität geht. Der Wert der Wissenschaften scheint nur noch das im Fokus zu sehen. Und hier ist noch ein weiterer religiöser Unterschied. Nicht in dem Sinne, dass Religion dagegen wäre. Die Religion ist vielmehr dagegen, diese Werte zu höheren Grundsätzen zu machen.

Schlussfolgerung 

Trotz des Unterschieds zwischen Religion und Atheismus, liegen dennoch auch Punkte vor, in denen sich beide einig sind:

Genauso sehr, wie der Atheismus seine Sicht auf die Dinge als klar und mit der modernen Wissenschaft im Einklang ansieht, genauso sehr sehen auch die Religion und ihre Anhänger, dass ihre Sicht vollkommen klar und gar offensichtlich ist. So sehr, dass die Stärke ihrer Überzeugung viel größer ist, als die Stärke der Überzeugung der Atheisten. Die Stärke der Überzeugung einiger Atheisten wiederum ist größer, als der eines großen Publikums von Gläubigen. Beide Parteien also sehen ihre Ansicht als jeweils klar und deutlich an. So sehr wie der Atheist die Abwesenheit Allāhs im Leben sieht, weil man ihn ja nicht sieht und nicht fühlt, so sehr ist seine Anwesenheit für den Gläubigen klar. Er stellt unbewusst eine Verbindung mit ihm her, die manchmal die Grenzen des Verstehens und des Verständnisses überschreitet.

Beide Parteien beider Seiten sagen, dass die Religion oder eben der Atheismus Gutes und Nützliches für die Menschheit bringt. Jeder von ihnen liest aus Büchern und Werken, die die positive Wirkung auf das Leben erklärt und hier und da Ergebnisse, Zivilisation und Hochkultur brachten – für die es jetzt keinen Raum zur Diskussion gibt. Der Vergleich der Ansätze beider führt jeweils zum Scheitern des anderen – und zum Fokussieren auf schwache Themen, ohne auf die wirklich starken Themen zu schauen. Der Atheismus zeigt sich stolz, weil er sagt, er hätte die moderne Wissenschaft hervorgebracht. Wenn das stimmt, dass die moderne Wissenschaft also ein Ergebnis des Atheismus sei, dann kommen die Religionen und führen an, dass auch sie große Errungenschaften in den Natur- und Geisteswissenschaften vorweisen können. Dies etwa in einigen Epochen, in denen sie Macht und Einfluss besaßen – wie beispielsweise in der islamischen Geschichte, als durch die Muslime alle Wissenschaften entsprechenden Fortschritt erlangten.

Vor dem Hintergrund dieser genannten Modelle, einer kleinen Zusammenfassung dessen, wohlgemerkt, stehen wir nun vor zwei Menschen. Jeder von ihnen denkt auf seine eigene Art und Weise. Jeder von ihnen sieht die Dinge durch seine eigene Brille. Was ich nach diesem kleinen Vergleich also sagen möchte, ist folgendes:

  1. Die Religion ist nicht gegen die Anschauung. Sie selbst ist eine Anschauung. Ob Du sie annimmst oder ablehnst. Sie ist eine vollständige Anschauung einer anderen Art. Was wir bei einigen Intellektuellen vorfinden, die über die Religion berichten, sind nur chaotische Gedanken, die nicht der Wahrheit entsprechen. Die Religion ist eine Anschauung des Seins und des Menschen. Sie ist ein Ansatz, der es verdient, bei ihm anzuhalten. Es darf nicht sein, dass man sich der Verantwortung entzieht, indem man ein falsches Bild davon zeichnet (und alles so darstellt), als würde es sich um lustige Erzählungen von Astronomen handeln oder sonst einen Unsinn, der aus Tassen gelesen wird. In den Epochen der Religion kamen große, philosophische Ansätze zustande, die die Geschichte auch kennt. Und immer noch umarmen sie die großen religiösen Grundsätze.
  2. Die Religion lässt sich nicht nur aus der Perspektive des Wahren und des Falschen betrachten, sondern auch aus einer psychologischen und gesellschaftlichen Perspektive. Religion wird auch nicht allein aus der Sicht seiner schwächeren Elemente bewertet, sondern eben aus einer vollständigen Perspektive. Was wir heute bei einem großen Teil der Gemeinschaft beim Umgang mit der Religion und der Ansätze seiner Schwächen erleben, ist ein großer wissenschaftlicher Fehler. Ebenso auch der Umgang auf eine spöttische Art, indem sie einige Irrtümer, Mythen und vorhandenen Aberglauben innerhalb der religiösen Mitte auszunutzen versuchen. Wir finden heute genügend Personen, die alle historischen Widersprüche innerhalb der Religion sammeln, ebenso wie ihre Fehler und Schwachpunkte – um sie dann im Kontext eines säkularistisch-islamischen Konflikts hervorzubringen. Eine politische Schlacht der höchsten Art. Die Worte werden als intellektuelle Mischung genutzt. Eine politische Schlacht, um politisch-religiöse Strömungen zu stürzen und dabei andere zu stützen. Die Religion ist das Opfer, weil sie den Menschen mit einem schlimmen Gesicht erscheint. Sie verwenden die unterschiedlichsten und spektakulärsten Methoden der Medien. Leider aber erkennen bis heute nur die wenigsten Gläubigen die wahre Lage. Sie bleiben hingebend bei diesem negativen Bild der Religion. Sie stoppen alle Schritte der Anstrengung und Erneuerung in der Glaubenslehre und glauben, dass genau diese Schritte uns in die Falle des Weltlichen und des Atheismus führen. Sie erkennen nicht, dass die Abschaffung aller Schritte der Anstrengung und Erneuerung auf beste Weise zum Sieg all jener weltlichen Strömungen führt, die ohnehin eine feindliche Grundhaltung gegenüber der Religion haben!! Sind denn diese religiösen, aber unzivilisierten Strömungen von heute nicht die beste Unterstützung für das Wachstum der Strömungen des Säkularismus?! Ist denn diese Art der feindlichen, ausschließenden und verschließenden Religiosität, von der ja eigentlich gedacht wird, sie würde die Religion mit ihrer Feindschaft, ihrem Ausschließen und ihrem Versperren schützen… hat diese nicht etwas in sich, das ein gewaltiges, adoleszentes Bewusstsein erschafft, das frenetisch ausruft: „Die Nichtexistenz des Islam ist die Lösung“? Dies, im Gegensatz zu: „Der Islam ist die Lösung“. Und dies deshalb, weil sie denkt, dass das Erscheinen der Religion in das Leben der Grund für unsere heutigen Probleme sei!!?

Ich möchte alle Forscher, alle Denker, alle Gelehrten, alle Intellektuellen und auch alle Kritiker dazu aufrufen, sich von der Sprache (und der Berichterstattung) der Medien loszulösen. Und von allem politischen Wetteifer und vom einseitigen Blick (auf die Dinge), wenn sie die Religion betrachten. Wir begehen einen historischen Fehler, in dem wir beim Versuch, die politisch-religiösen Parteien zu filtern, am Ende die Religion selbst filtern. Auf diese Weise verliert die Gemeinschaft ein hohes, moralisches, geistiges, soziales und kulturelles Element.

Autor: Scheikh Haidar Hobbollāh


[1] lat. Causa efficiens

[2] lat. Causa finalis

[3] Die Kaʿba, (arabisch الكعبة) ist ein quaderförmiges Gebäude im Innenhof der Heiligen Moschee in Mekka.

[4] Die Ašʿarīyah (arabisch أشعرية) ist eine theologische Richtung des sunnitischen Islams.

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